Jetzt, da du das Gedächtnis verloren hast
(meinem Vater)
Jetzt, da du das Gedächtnis verloren hast
und nur hilflos lächeln kannst,
möchte ich Dir helfen – hast doch einst
du, wie ein Demiurg, meine Phantasie geöffnet.
Ich denke an unsere Ausflüge, Wolken aus Wolle,
tief über dem feuchten Wald in den Bergen schwebend
( ihn diesem Wald kanntest du jeden Pfad), und auch
an den Sommertag, als wir auf die Spitze
des hohen Leuchtturms an der Ostsee kletterten
und lange auf das endlose Wogen des Meeres schauten,
seine weißen Nähte zerfranst wie Heftfäden.
Den Augenblick werde ich nie vergessen, ich denke, auch du warst
gerührt – wir schienen die ganze Welt zu sehen,
die unendliche, ruhig atmende, blaue, vollkommene Welt,
deutlich und verschleiert zugleich, nah und fern;
wir spürten die Rundung des Planeten, wir hörten
die Möwen, die spielerisch langsam
durch warme und kalte Luftströme glitten.
Ich kann dir nicht helfen, ich habe nur ein Gedächtnis.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, in „Unsichtbare Hand“, Carl Hanser Verlag, 2012
Adam Zagajewski, geboren 1945 in dem heute zur Ukraine gehörenden Lemberg, verbrachte seine Kindheit und Jugendzeit in Gliwice/Gleiwitz und in Krakau. Wenn man nach Schriftstellern sucht, die kompromisslos die Autonomie des literarischen Schreibens gegenüber der Macht verteidigt haben, muss man immer auch an ihn denken. Er war in den Jahren des „realen Kommunismus“ in Polen immer auf Seiten des intellektuellen Widerstands. Seine Bücher waren in jenen Jahren in Polen verboten, aber kursierten trotzdem in den Kreisen, die seine Gedichte als eine Art geistiges Überlebensmittel einfach zum Atmen brauchten.
Nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen in den Monaten zwischen Ende 1981 und Anfang 1982 flüchtete Zagajewski über West-Berlin und die USA nach Paris. Als sich dann Polen nach dem Fall der Mauer und dem endgültigen Verschwinden der kommunistischen Nomenklatura demokratisierte, ging er auch wieder zurück in sein geliebtes Krakau. Die engen Beziehungen zu Frankreich, zu Deutschland und auch zu den USA sind aber für den polyglotten Schriftsteller bis heute sehr wichtig geblieben.
Vor allem in seinen neueren Gedichte, von denen eine Auswahl in dem Band „Unsichtbare Hand“ in der Reihe des Münchner Lyrik-Kabinetts veröffentlicht worden sind, kommt Zagajewski immer wieder zurück auf Kindheitserinnerungen, die er aber nicht nostalgisiert, sondern in einem manchmal sehr nüchtern erscheinenden Erzählstil in eine lyrische Form bringt. Er erinnert an seinen leiblichen Vater „der sein Gedächtnis verloren hat“, aber auch an „literarische Väter“ wie Joseph Brodsky, Zbiegnew Herbert und Czesław Miłosz. Immer wieder versucht Zagajewski auch über das eigene Schreiben zu reflektieren. „Gedichte schreiben ist ein Duell, bei dem es keinen Sieger gibt…“.
Carl Wilhelm Macke
Adam Zagajewski: Unsichtbare Hand. Übersetzt von Renate Schmidgall. Hanser Verlag 2012. 128 Seiten. 14,90 Euro. Foto Zagajewski: Slawek’s, Ron Whisky, Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic.