Am Gittertor verklumpen sich die Opfer
Am Gittertor verklumpen sich die Opfer,
Gesichter nackt und vollkommen,
verschlossen in der Unwissenheit,
widersinnige Hände
an ein Eisen geklammert,
und draußen fährt der Zug vorbei
sonnig und leicht,
ein Knall aus eigenem licht
über meine gekränkte Grenze
Übersetzt von Daniel Graziadei
Bücher der Alda Merini, einer im deutschsprachigen Raum so gut wie unbekannten Lyrikerin, findet man in jeder italienischen Buchhandlung, ja oft sogar am Zeitungskiosk um die Ecke. In den letzten Jahrzehnten war die 1991 in Mailand geborene und 2009 dort auch gestorbene Alda Merini die, jedenfalls in den Bestseller-Listen unumstrittene „Regina Poetica‘, Königin der Poesie. Von ihr existieren eine Unzahl an Lyrikbänden, die es fast immer geschafft haben, ein sehr großes Leserpublikum zu finden. Schon früh wurde sie von in Italien sehr berühmten Autoren wie Eugenio Montale, Maria Luisa Spaziani oder Giorgio Manganelli entdeckt und gefördert.
Einen längeren Abschnitt ihres Lebens verbrachte Alda Merini in psychiatrischen Anstalten. Über diese Zeit schrieb sie später nach ihrer Entlassung immer wieder Gedichte und auch kleinere Prosawerke, die offensichtlich ein großes Publikum (vornehmlich an Leserinnen ) anzog.
„Ich habe mein ganzes Leben genossen, trotz dessen, was man über die Irrenanstalten sagt. Ich habe das Leben genossen, weil mir auch die Hölle im Leben gefällt und das Leben ist oft die Hölle. Für mich war das Leben schön, weil ich es teuer bezahlen musste“.
Sie war (und ist es immer noch) so beliebt, dass man ihr ein Staatsbegräbnis, einschließlich einer Messe im Mailänder Dom ausrichtete. Für das kommende Jahr 2014 ist endlich eine Edition mit übersetzten Gedichten der Merini angekündigt („Die verliebte Seele“). In der soeben bei Hanser erschienenen Anthologie mit zeitgenössischer italienischer Lyrik „Die Erschließung des Lichts“ sind wenigstens drei Gedichte von ihr aufgenommen worden, darunter auch der von Maja Pflug übersetzte „Gesang der Frauen“, in dem sie mit den Worten der Poesie brutale, an Frauen verübte Gewalt ‚besingt‘.„….Ich singe von den von Bestien überwältigten Frauen“. Vielleicht hat auch das zur Popularität der Alda Merini beigetragen: sie gibt mit ihren Gedichten auch denjenigen Frauen ihre Sprache zurück, um das Schweigen über die erlittene Gewalt auch für andere hörbar zu machen.
Carl Wilhelm Macke
Gedicht erschienen in: Federico Italiano/Michael Krüger: Die Erschließung des Lichts. Italienische Dichtung der Gegenwart. Hanser Verlag, München 2013. 296 Seiten. 21,90 Euro. Foto Alda Merini: Giuliano Grittini, Wikimedia Commons, Quelle.