Geschrieben am 19. November 2014 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Anna Achmatowa

Anna_Achmatowa_1950Requiem

Ich ließ mich nicht von meiner Heimat scheiden, Floh in die Fremde nicht vor der Gefahr.
Ich blieb bei meinem Volk in seinem Leiden, Blieb, wo mein Volk zu seinem Unglück war.
(April 1957)

Ein kurzes Gedicht, dem ein längerer Text „Statt eines Vorwortes“ als eine Art Fußnote folgt:

„In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise ‚erkannte’ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehenden Frau mit blauen Lippen, die einen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton). ‚Und Sie können dies beschreiben?’ Und ich sagte: ‚Ja’. Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.“

Übersetzt von Efim Etkind
Beides zusammen, das Gedicht und der begleitende Text, gehören für mich zu den wichtigsten literarischen Dokumenten des 20. Jahrhunderts. Hier ist in einer sehr konzentrierten Form alles zusammengefasst, was dieses Jahrhundert in der stalinistischen Sowjetunion (aber nicht nur dort) so tief gezeichnet hat. Die Gewalt, die Flucht, das Leiden, das Unglück, aber auch die Möglichkeiten der Kunst und des Schreibens (z.B. von Gedichten), dieses Elend zu artikulieren und damit vielleicht sogar so etwas wie eine Hoffnung anzudeuten. „‚Und Sie können dies beschreiben?’ Und ich sagte: ‚Ja’. Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.“

Primo Levi, Überlebender eines anderen Schreckenslager des 20. Jahrhunderts, hat einmal geschrieben: „Wir tragen solange wir leben, eine Verantwortung: wir müssen einstehen für das, was wir schreiben, Wort für Wort, und darauf achten, dass jedes Wort trifft.“ Die Möglichkeiten und die damit verbundenen Verpflichtungen einer Kunst des Erinnerns sind in diesen beiden Zitaten der Achmatowa und von Primo Levi aufgehoben. Um mehr über Anna Achmatowa zu erfahren sei hier noch einmal auf das Buch von Nadeschda Mandelstam „Erinnerungen an Anna Achmatowa“ verwiesen.

Carl Wilhelm Macke

Das Gedicht ist erschienen in: Anna Achmatowa: Im Spiegelland. Übersetzung von Efim Etkind. Piper Verlag München 1994. 260 Seiten.

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM

Foto: Wikimedia Commons.

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