Du hörst zu – hörst du zu? –
dem anderen, der von sich erzählt,
du wartest auf den ersten Punkt,
um von dir zu sprechen „ich auch…“
Jetzt hört der andere zu – hört er zu?
Nein, er denkt nur: mach’s kurz.
Ein letzter Rerst Herz
für ein „Kopf hoch“
und ein „bis bald“.
Dann das schwindende „ciaciao“,
in dem das O verlischt.
Aus dem Italienischen von Piero Salabè
Im italienischen Original lautet das Gedicht:
Tu ascolti – ascolti? –
l’altro che ti racconta i casi suoi,
tu aspetti solo il primo punto accapo
per dire ‚„anch’io…“ e per passare i tuoi.
Ora è l’altro che ascolta – ascolta?
No pensa solo: non la fare lunga.
Da un residuo di cuore
ci mandiamo infine
un „fatti corraggio“ e „a presto“.
Poi la dissolvenza del „cia-ciao“,
dove la o si perde.
Die 1939 in Mailand geborene Anna Maria Carpi ist im deutschsprachigen Raum bislang nicht bekannt. Aber dazu gilt es sofort eine Einschränkung zu machen: in den Kreisen der professionellen Literaturvermittlung zwischen Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien kennt man sie schon seit vielen Jahren. Viele wichtige Übersetzungen deutschsprachiger Schriftsteller in das Italienische stammen von ihr. Dazu gehören Werke von Friedrich Nietzsche, Peter Handke, Rainer Maria Rilke, Thomas Bernhard, Hans Magnus Enzensberger, Michael Krüger und Durs Grünbein. Über Heinrich von Kleist, Thomas Mann, Gottfried Benn, Paul Celan hat sie lange Essais und Bücher geschrieben. Sie hat deutsche Literaturgeschichte an italienischen Universitäten unterrichtet, gehört der Jury des „Würth-Preises“ in Stuttgart an und seit 2014 ist sie auch Mitglied der „Akademie für Sprache und Dichtung“ in Darmstadt.
In dem „Land, wo die Zitronen blühen“ gibt es derzeit nur Wenige, die so eng mit den deutschsprachigen Ländern jenseits der Alpen vernetzt sind wie Anna Maria Carpi. Und doch ist sie als Autorin hier weitgehend unbekannt. Erst jetzt mit diesem in der „Edition Lyrik Kabinett“ des Hanser-Verlags erscheinenden Bandes haben wir die Möglichkeit, eine der lebendigsten Stimmen der zeitgenössischen Lyrik Italiens kennenzulernen. Piero Salabè, bei Hanser auch als Lektor für die italienische Gegenwartsliteratur zuständig, hat den oft lakonischen, gelegentlich auch ironischen Ton ihrer Gedichte sehr gut in das im Vergleich mit dem Italienischen schwerfälligere, dunklere Deutsch übertragen, ohne ihm aber gleichzeitig die „Italianità“ zu nehmen.
Da Anna Maria Carpi aber ihre Gedichte nicht mit einem Titel einrahmt, fällt es manchmal schwer, Anfang und Ende eines Gedichts zu bestimmen. Aber vielleicht ist das ja auch gerade Bestandteil ihrer Poetologie, in der es das Beginnen und Beenden eines literarischen Werkes nicht gibt, nicht geben soll. Aus dem lesenswerten, weil informationsreichen Nachwort von Durs Grünbein erfahren wir, dass Anna Mara Carpi seit Jahren schon an einem umfangreichen Tagebuch schreibt. „Selbst enge Freunde kennen es nur als Legende“. Vielleicht werden einmal wenigstens Teile aus diesem ‚Work in Progress‘ auch ins Deutsche übersetzt.
Die vorliegenden Gedichte jedenfalls machen uns sehr neugierig auf diese „verirrte Italienerin“, die sich mit Worten fortzutasten versucht in einer Welt, in der ihr alte Orientierungen und Sicherheiten verloren gegangen sind, manchmal so unscheinbar wie das „o“ im vertrauten „Ciaciao“… Eine Dichterin also auf der Höhe der Zeit…
Carl Wilhelm Macke
Das Gedicht ist erschienen in: Anna Maria Carpi: Entweder bin ich unsterblich. Edition Lyrik Kabinett, München, 2015. 153 Seiten. 15,90 Euro.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).