Geschrieben am 6. März 2013 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Bei Dao

Bei DaoAn einem Abzweig

Vergangene Tage tadeln
die Blüte des Augenblicks
All die Nächte, die Frühlinge stolz machen
rollen mit dem Gestein dahin
Sie zerschlagen alles Glas im Traum

Warum nur weile ich hier?
Briefe aus der Lebensmitte verbreiten
eine weite Wehmut
Schuhe, die nie einen Zweifel kannten, wechseln
Stümpfe oder ihre List

Ohne jeden Plan schweife ich
bei irgendeinem Konferenzbericht
noch weiter in die Ferne
Ich folge einer Partikel und biege ab
Gemeinsam mit armen Seelen
heiße ich an einem Abzweig das Abendlicht willkommen.

Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubik

Von Bei Dao (geb. 1949 als Zhao Zhenkaiin Peking) existiert in deutscher Übersetzung lediglich ein Band in der sehr verdienstvollen „Edition Lyrik Kabinett“ des Hanser Verlags. „Er studierte chinesische Sprach- und Literaturwissenschaft und war bis 1987 als Herausgeber für verschiedene chinesische Zeitungen und Literaturzeitschriften tätig. Während des Pekinger Frühlings (1978-80) rief er zusammen mit dem Lyriker Mang Ke die literarische Untergrundzeitschrift „Jintian“ (Heute) ins Leben, die er seit ihrer Wiederbegründung 1991 vom Ausland aus betreut. 1984 trat der Dichter in den chinesischen Schriftstellerverband ein. Obgleich er für seine Kritik an der Einstellung der Literaturzeitschrift „China“ 1986 gemaßregelt wurde, erhielt er noch 1988 den Staatspreis der Volksrepublik China für den besten Gedichtband.

Im Februar 1989 forderte Bei Dao die Freilassung von Wei Jingsheng in einem Offenen Brief an Deng Xiaoping, der von 40 führenden Intellektuellen unterzeichnet wurde und eine breite Kampagne für Menschenrechte auslöste. Zur Zeit des Massakers auf dem Tiananmen Platz (4. Juni 1989) hielt sich der Dichter, dessen Verse z.T. als Slogans bei den Demonstrationen gerufen wurden, als Gast des DAAD in Berlin auf. Da er in seiner Heimat von Verhaftung bedroht war, lebte er seither im Exil, wo er Gastdozenturen in England, Dänemark und den USA übernahm.

Bei Dao gilt als bedeutendster Dichter der so genannten „obskuren Lyrik“. Im Zentrum seines Schaffens steht das lyrische Werk. Hier zeichnet sich der Einfluss westlicher und chinesischer Moderne deutlich ab. Daneben veröffentlichte er auch Kurzgeschichten und Essays, zuletzt die Sammlung „Midnight’s Gate“. Bei Dao widmet sich schon früh einer kritischen Aufarbeitung der chinesischen Geschichte nach 1949. Er widerspricht dem mystifizierenden Bild einer fortschrittlichen Entwicklung, indem er nicht Befreiung, sondern Flucht, Gefangenschaft und Isolation thematisch in den Mittelpunkt stellt.

Der „anfänglich unbekümmerte Ton“, so sein Übersetzer Wolfgang Kubin, wird im Laufe der Jahre „zunehmend komplizierter“. Dieser Eindruck verdankt sich einer verfeinerten Form der Montagetechnik, bei der sich die Bilder so übereinanderlegen, dass die Dinge scheinbar beziehungslos, z.T. paradox nebeneinanderstehen.

Hermetik und Dunkelheit sind Schlagworte, die bei der Charakterisierung des lyrischen Werks Bei Daos häufig fallen. In ihrer Verweigerung einer eindeutigen Aussagestruktur öffnen sich die Gedichte einer allgemeinen menschlichen Zustandsbestimmung. Das Verhältnis von Ich und Welt wird nicht nur in seiner politischen Dimension sprachlich ausgeleuchtet, wenn es etwa heißt: „Der Welt bin ich/Auf immer ein Fremder/Ich verstehe ihre Sprache nicht/Sie versteht mein Schweigen nicht.“
(Quelle: ‚Internationales Literaturfestival, Berlin)

Carl Wilhelm Macke

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