Geschrieben am 3. Juni 2015 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Christoph Meckel

Meckel_24764_MR.inddRede vom Gedicht

Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird.
Hier ist die Rede vom Salz, das brennt in den Wunden.
Hier ist die Rede vom Tod, von vergifteten Sprachen.
Von Vaterländern, die eisernen Schuhen gleichen.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Wahrheit verziert wird.

Hier ist die Rede vom Blut, das fließt aus den Wunden.
Vom Elend, vom Elend, vom Elend des Traums.
Von Verwüstung und Auswurf, von klapprigen Utopien.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Schmerz verheilt wird.

Hier ist die Rede von Zorn und Täuschung und Hunger
(die Stadien der Sättigung werden hier nicht besungen).
Hier ist die Rede von Fressen, Gefressenwerden
von Mühsal und Zweifel, hier ist die Chronik der Leiden.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo das Sterben begütigt
wo der Hunger gestillt, wo die Hoffnung verklärt wird.

Das Gedicht ist der Ort der zu Tode verwundeten Wahrheit.
Flügel! Flügel! Der Engel stürzt, die Federn
fliegen einzeln und blutig im Sturm der Geschichte!

Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Engel geschont wird.

 

In meiner Schulzeit habe ich das Lesen und besonders das Interpretieren von Gedichten nicht geschätzt. Ich fand die uns immer als Pflichtlektüre präsentierten Gedichte von Goethe, Schiller, Eichendorff, Lenau und anderen Klassikern der deutschen Literatur langweilig, sinnlos, irgendwie vollkommen überflüssig. Aber es gab da immer auch eine trotz allem Unbehagen noch kleine beunruhigende Frage: warum setzt sich da einer hin und schreibt manchmal viele Strophen lang diese merkwürdigen Texte, die die Leser dann nicht verstehen? Erst als es dann nach der Schulzeit auf dem humanistischen Gymnasium keine Pflicht mehr gab, sich mit diesen merkwürdigen Textgebilden zu beschäftigen, wurde ich neugieriger auf Gedichte. Und irgendwann, nach vielen Entdeckungsreisen quer durch Zeit und Raum der Poesie, stieß ich auch auf Christoph Meckels „Rede vom Gedicht“. Hier ist alles enthalten, was ein Gedicht so faszinierend, so aufwühlend, so verwirrend machen kann. Hätten wir dieses Manifest über die Möglichkeiten eines Gedichts doch nur in den oft so sterbenslangweiligen Deutschstunden zur Lektüre präsentiert bekommen!

Christoph Meckel wird im Juni dieses Jahres 80 Jahre alt. Auch er musste sich wie so viele seiner Generation mit den Nazi-Verstrickungen seiner Eltern, besonders seines Vaters, auseinandersetzen. Und er legte mit seinen Gedichten, seinen Romanen, seinen Zeichnungen eine Tradition deutscher Geschichte und Kunst offen, die der Generation nach dem Ende von Krieg und Nationalsozialismus Geborenen unbekannt war. „Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird./Hier ist die Rede vom Salz, das brennt in den Wunden./Hier ist die Rede vom Tod, von vergifteten Sprachen./Von Vaterländern, die eisernen Schuhen gleichen./Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Wahrheit verziert wird.“

Carl Wilhelm Macke

Christoph Meckel: Tarnkappe. Gesammelte Gedichte. Hanser, München 2015. 960 Seiten. 34,90 Euro.

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).

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