Geschrieben am 6. Mai 2015 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Denise Levertov

Denise_Levertov_editO Taste and See

Die Welt ist
nicht genügend in uns.
o Taste and See

sagte das Bibelplakat in der Untergrundbahn, und meinte den HERRN, meinte, wenn irgend etwas, alles Leben, das für die Sprache der Phantasie geschaffen,

Kummer, Gnade, Worte,
Mandarine, Wetter, sie
zu atmen, beißen, schmecken, kauen,
herunterzuschlucken und zu verwandeln

unser aller Sterben in unser
Fleisch, die Straße kreuzen, Pflaume, Quitte,

hungrig sein, und die Frucht
pflücken.

Übersetzung von Christa Langenscheidt

O Taste and See

The world is
not with us enough
O taste and see
the subway Bible poster said,
meaning The Lord, meaning
if anything all that lives
to the imagination’s tongue,
grief, mercy, language,
tangerine, weather, to
breathe them, bite,
savor, chew, swallow, transform
into our flesh our
deaths, crossing the street, plum, quince, living in the orchard and being hungry, and plucking the fruit.

 

Die 1923 in Allford, Essex, England geborene und 1997 in Seattle, USA gestorbene Denise Levertov ist im deutschen Sprachraum wenig bekannt. In der neueren US-amerikanischen Literaturszene jedoch galt (und gilt sie immer noch) als eine der wichtigsten lyrischen Stimmen in den ersten Jahrzehnten nach 1945. Sie sei, so schrieb Amy Gerster im „Los Angeles Times Book Review, „one of America’s most respected poets.“

In dem Band „Luftfracht“ (Internationale Poesie zwischen 1940 und 1990, Frankfurt am Main, 1991) schreibt der Herausgeber Harald Hartung über die Lyrikszene der USA in den fünfziger Jahre u.a. „Innerhalb der amerikanischen Massenzivilisation gelang den Dichtern der Ausbruch aus der Vereinzelung in eine enorme (wenn auch vorübergehende Resonanz. Sie befreiten die Lyrik vom Diktat des Akademischen. Man wollte nicht mehr englisch schreiben sondern amerikanisch…In kleinen Freundeszirkeln bereitete sich vor, was man dann ‚Beat-Generation‘ und später ‚Pop art‘ nennen sollte. Die poetologischen Diskussionen wurden in Briefen und kleinen Magazinen geführt.“

Und zu den wichtigsten Lyrikerinnen, die sich in jenen Jahren vor allem in der Zeitschrift „Black Mountain Review“ zu Wort meldeten, gehörte die 1948 aus England in die USA emigrierte Denise Levertov. Sie veröffentlichte eine ganze Reihe von Lyrikbänden, u.a. 1964 den Band dem sie als Titel das hier vorgestellt Gedicht „O Taste and See“ gab. Im AltaQuito-Verlag (Göttingen) erschienen auch einige Gedichtbände von ihr in einer deutschen Übersetzung („Jenseits des Feldes“, 2001; „Luftspiegelung“, 2010; „Modulationen für Solostimme“, 2010).

Neueren literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen deutschsprachiger Autoren kann man entnehmen, dass das Interesse an einer (Wieder-) Entdeckung von Denise Levertov zugenommen hat. Auch scheint die Zeit langsam vorbei zu sein, dass in Lyrikanthologien (wie zum Beispiel in dem Band „Luftfracht“,) fast ausschließlich männliche Autoren als publikationswürdig angesehen wurden. Ein Gedicht von Denise Levertov wurde aber auch mit in die „Luftfracht“ aufgenommen. Immerhin…

Carl Wilhelm Macke

Das Gedicht ist erschienen in Akzente 5/6/1964. Übersetzung von Christa Langenscheidt. Foto: Wikimedia Commons, Autorin: Elsa Dorfman. Quelle.

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).

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