Geschrieben am 1. September 2016 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Giorgio Caproni

Giorgio_caproniDer Mutter zu Ehren

„Il seme del piangere“

Inschrift

Klar wie die Gläser die blanken
waren ihre Gedanken.
Wegen ihr sei’s wieder ehrenhaft
wenn einer Herz-Schmerz-Reime schafft.

Iscrizione

Freschi come i biccieri
furono i suoi pensieri.
Per lei torni in onore
la rima in cuore e amore.

Aus dem Italienischen übersetzt von Stefan Ruess

 

Ganz am Ende des langen Gedichtzyklus mit dem Giorgio Caproni (1912 – 1990) seiner Mutter ein poetisches Denkmal gesetzt hat, steht eine verstörende Grabinschrift. Verstörend, weil sie so einfach, so naiv, fast kitschig erscheint. Der verstorbenen Mutter wegen sei es „wieder ehrenhaft“, Verse zu schreiben, in denen sich Herz auf Schmerz reimt. Wer sich auf moderne Lyrik einlässt, fasst Poesiealben nur mit spitzen Fingern an. Man respektiert vielleicht schulterklopfend die ersten poetischen Schreibversuche junger Mädchen (Jungen sehen ja Poesiealben eher als etwas Unanständiges an…), aber so richtig ernst kann man diese mit rosa Blümchen dekorierten Büchlein nicht nehmen. Gibt es sie heute in der Ära des Facebooks und des Smartphones überhaupt noch…?

Der jetzt in der kleinen, feinen Schweizer „edition taberna kritika“ (Bern) erschienene Gedichtband von Giorgio Caproni hat auch ungefähr die Dimensionen eines größeren Smartphones und könnte also bequem an den Strand oder ein Straßencafè mitgenommen werden. Eine App des Büchleins gibt es leider nicht. Aber wen, aus welcher Generation auch immer, könnten denn diese poetischen Erinnerungen von Giorgio Caproni an seine Mutter interessieren. Verse, die sich auch noch häufig wie Herz auf Schmerz reimen?

Und dennoch ist diesem, von Stephan Ruess ebenso kompetent wie liebevoll ins Deutsche übersetzten Band eine aufmerksame Leserschaft zu wünschen. Caproni ist nicht irgendein unbedeutender Provinzschriftsteller aus Livorno, dem er auch einige seiner schönsten Gedichte gewidmet hat. Mit seinem Gesamtwerk, das achtzehn Gedichtbände umfasst, gehört er zu den ganz großen italienischen Lyrikern des XX. Jahrhunderts. Mit ihm verbindet man vor allem  Porträts einzelner Personen (wie seine Mutter) oder Städte (wie Livorno).

In „Il seme del piangere…“ ruft Caproni die Jugendzeit seiner Mutter Anna Picchi ins Gedächtnis zurück. „Es dürfte sich um die schönsten Verse handeln, die je einer Mutter in der Dichtung gewidmet worden sind“ (Manfred Lentzen). Nur einem Dichter von der Größe eines Giorgio Caproni gelingt es, an die eigene Mutter adressierte Liebesgedichte zu schreiben, die weder im Kitsch ertrinken noch eine vielleicht skandalöse inzestuöse Beziehung andeuten. Der Dichter ist unsterblich verliebt in jenes junge Mädchen Annina bevor sie seine Mutter wurde. Und der Mutter Anna hat er dann Gedichte des großen Respekts vor ihrer Bescheidenheit gewidmet. „Nur dieses eine Mal“ (Caproni spielt hier an auf den von vier Pferden gezogenen Leichenwagen), reiste Annina erster Klasse“.

Dass der Verlag und der Übersetzer diesen Band mit Caproni-Gedichten so vollkommen gegen jeden Zeitgeist, gegen jedes Schielen auf mögliche Umsatzzahlen ediert hat, kann man nur dankbar zur Kenntnis nehmen. Dass diese Edition auch noch Neugierde auf den in Italien beliebten, im deutschen Sprachraum so gut wie unbekannten Dichter Giorgio Caproni weckt, kann man nur hoffen.

Carl Wilhelm Macke

Das Gedicht ist erschienen in: Giorgio Caproni: Il seme del piangere/Die Saat des Weinens. Aus dem Italienischen übersetzt von Stefan Ruess. edition taberna kritika, Bern 2016. 114 Seiten. 15,00 Euro.
Foto: Wikimedia Commons, Autor: Fabio Matteo, Quelle.

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).

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