Trauer
Finde den konzisen
Ausdruck für trauer:
eine waldschnecke mit schleim
und dem reflexmechanismus
in sinnloser ordnung,
rechtzeitig ist der fühler
draußen, rechtzeitig
wieder eingezogen,
und im körper drinnen
präzise benutzt
wie eine schwangre sirene,
deren fallender ton
fällt und fällt
hinab durch allen
organismus.
Ach haut
Mein äußerster
radarschirm
Du gehst an mir vorbei
Du gehst an mir vorbei
während wir ganz still sitzen
Ich rede an mir vorbei
während du nicht hörst
Wir tun nichts
und ein engel liest uns auf
Licht
I
Ich erkenne abermals
eine lichtung in der sprache wieder
die geschlossenen wörter
die da sind um geliebt und wiederholt
zu werden bis hin zum einfachen
Ein schwan der sich ums ei
zusammenfaltet
ist ein echo von
schöpfung noch in uns
Und der schwan der dein auge
zur sonne fliegt
ist nochmals
prophezeiung eines wunders
Es gelingt im wort
das licht wiederzuerkennen
unfassbare handlung
vom manne zur frau
Ein wort das dein gemüt
in einen schwan verwandelt
hat einfachheit genug
ein ei zu formen
Und die sprache die sich
Im ei drinnen schließt
hat flügel die tragen
von geburt zu licht
Und die sonne ist da um geliebt zu werden
(…)
© Kleinheinrich Verlag.
Die Lyrikerin, Essayistin und Hörspielmacherin Inger Christensen ist am 16. Januar 1935 in Vejle an der Ostküste in Dänemark als Tochter eines Schneiders und einer Volksschullehrerin geboren. Studiert hat sie in Kopenhagen Medizin, Chemie und Mathematik, aber sie hat dann keine naturwissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen. Beginnend mit dem Studium schrieb Christensen immer Gedichte die immer auch stark von ihren naturwissenschaftlichen Interessen geprägt waren. Trotz ihrer alles andere als leicht eingängigen Gedichte war Inger Christensen in ihrer Heimat Dänemark immer sehr beliebt. Man konnte ihre Verse nicht einfach auf Glückwunsch- oder Traueranzeigen zitieren, aber man sprach immer über sie.
Hätte sie den Nobelpreis für Literatur erhalten – und oft wurde sie genannt – wäre das eine große Ehre für die dänische, aber auch für die gesamte moderne europäische Lyrik gewesen. Inger Christensen hatte ein alles andere als revolutionäres Auftreten. Sie erschien eher als eine etwas betuliche Dame mit Handtäschchen – jedenfalls habe ich sie so einmal in München erlebt. Aber wenn sie dann ihre Texte vortrug und über ihre Arbeit im besten Deutsch mit den Zuhörern sprach, dann war sie eine Revolutionärin, eine radikale Liebhaberin von Sprachexperimenten.
Inger Christensen starb nach kurzer Krankheit am 2. Januar 2009 in Kopenhagen.
P.S. Großes Lob verdient auch der deutsche Kleinheinrich-Verlag (Münster), der mit sehr großer Sorgfalt und Passion dem Werk von Inger Christensen immer treu geblieben ist.
Carl Wilhelm Macke
Inger Christensen: lys/licht. Übersetzt aus dem Dänischen von Hanns Grössel. Kleinheinrich Verlag, Münster 2008.