Worte
(für Beverly)
Die Zunge
ist das erste Blatt des Rückgrats
Sprachwälder umstehn es
Durch Spracherde
gräbt sich die Zunge
– ein Maulwurf
In Bögen aus Schrift
fliegt die Zunge
– ein Vogel
Die Zunge ist gefiedert und allein im Mund
Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes
John Berger hat dieses Gedicht 1980 geschrieben. Ein weiteres, seiner Frau gewidmetes Gedicht stammt aus dem Jahre 1974. Beverly, mit der zusammen er viele Reisen, unendlich viele Museumsbesuche und Jahrzehnte in Quincy, einem Bergdorf in Hochsavoyen (Frankreich) gelebt hat, ist im Sommer 2014 gestorben. Yves, ihr gemeinsamer Sohn und John haben Beverly Texte des Gedenkens geschrieben, die im englischen Original unter dem Titel „Flying Skirts“ erschienen sind. Ich habe sie in einer italienischen Übersetzung gelesen („Rondò per Beverly“).
Der Lyriker John Berger ist bei uns weniger bekannt. Hans Jürgen Balmes, sein langjähriger deutscher Übersetzer, hat unter dem Titel „Wegzeichnung“ einen Band herausgegeben, in dem eine Auswahl der Gedichte von Berger zusammengestellt ist. Einleitend schreibt Berger da was ihn an Gedichten so fasziniert:
„Seit ich zwölf Jahre alt bin, schreibe ich Gedichte, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Gedichte entspringen einem Gefühl der Hilflosigkeit – daher ihre Kraft. Ein Gedicht ist zu schreiben ist das Gegenteil einer Motorradfahrt. Auf dem Motorrad reagierst du bei hoher Geschwindigkeit auf alles, was dir begegnet. Körper und Maschine folgen den Augen, die ungerührt ihren Weg suchen. Das Gefühl, frei zu sein, kommt daher, daß das Warten zwischen Entscheidung und Folge so knapp wird, und jedes Widerstreben und jeden Aufschub nutzt du zur Balance. Wenn du unterwegs bist, willst du leben, du denkst an nichts andres als an das, was vor dir liegt. Gegenüber Tatsachen sind Gedichte hilflos, doch nicht ohne Ausdauer, denn alles steht ihnen entgegen. Sie finden Namen für die Folgen, nicht für die Entscheidungen. Wenn du ein Gedicht schreibst, lauscht du auf alles, nur nicht auf das, was im Moment geschieht. Wie ein Kleid, abgestreifte Schuhe oder eine Haarbürste von etwas Abwesendem sprechen. Oder von etwas, das nicht direkt vor deinem Auge steht. Auf dem Motorrad rauscht der Fahrer vorbei, während Gedichte ihm entgegenstreben. Doch in dem Moment, wo sie einander kreuzen, empfinden sie die gleiche Trauer. Und so, meine Liebe, die gleiche Liebe…“.
In dem kleinen Memorial-Band von John und Yves Berger findet man kein Gedicht, aber Aufmerksamkeiten für ein Kleid, für abgestreifte Schuhe oder eine Haarbürste, „die von etwas Abwesendem sprechen“…
Carl Wilhelm Macke
John Berger: Wegzeichnung. Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes. Hanser Verlag 2001. 104 Seiten. 13,90 Euro.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM
Foto: Wikimedia Commons, Autor: Ji-Elle.