Hochverrat
Ich liebe mein Vaterland nicht.
Sein abstrakter Glanz
ist ungreifbar.
Aber ich würde ( obwohl es schlecht klingt) mein Leben geben für zehn seiner Orte, für bestimmte Leute, Häfen, Wälder, Wüsten, Festungen, für eine zerstörte, raue, monströse Stadt, für einige Gestalten seiner Geschichte, für Berge und
– drei oder vier seiner Flüsse.
Übersetzt von Leopold Federmair
Ende Januar 2014 ist in Mexiko-Stadt der Schriftsteller, Essayist und Poet José Emilio Pacheco gestorben. In Deutschland war es eine Nachricht, die irgendwo versteckt in den Feuilletons platziert war. In der spanischsprachigen Welt jedoch und vor allem in Mexiko, wurde dem Tod von Pacheco eine sehr viel größere Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Schriftsteller, der für sein Werk den „Cervantes-Preis“ zugesprochen bekommen hat (2009), der gehört schon zu Lebzeiten zu den „Unsterblichen der Literatur“.
Zeitlebens hat der 1939 geborene Pacheco nichts anderes gemacht als geschrieben, zu übersetzen und über Literatur zu referieren. Schreiben und sich einmischen in die Ereignisse seines Landes waren für ihn nur zwei Seiten einer Medaille. Von vielen wurde er deshalb auch als eine Art politisches Gewissen Mexikos angesehen. Einige seiner Gedichte wie vor allem „Hochverrat“ (Alta Traiciòn) haben ein überwältigendes Echo auch jenseits der kleinen Gemeinden von Lyrik-Liebhabern gefunden.
Vielleicht ist es literarisch nicht so bedeutend wie viele anderer seiner Gedichte, aber sein politischer Gehalt ist in Zeiten wiederkehrender Sehnsucht nach Nationalismus und aufgeplusterten Patriotismus gar nicht zu überschätzen. Mit einem unüberhörbaren Fortissimo beginnt es „Ich liebe mein Vaterland nicht“. Aber dann führt Pacheco auf, was ihm jenseits von diesem „abstrakten Glanz“ wichtig ist an dem Land, in dem er lebt: bestimmte Leute, zehn seiner Orte, einige Landschaften und historische Gestalten. In diesem Gedicht kann auch ich mich wiederfinden.
Für diese Entdeckung eines im deutschsprachigen Raum nur wenig bekannten mexikanischen Schriftstellers kann man Michi Strausfeld, der unermüdlichen Vermittlerin zwischen der spanischsprachigen Kulturen und Herausgeberin der wunderbaren Anthologie mit moderner Lyrik aus Lateinamerika nur dankbar sein.
Carl Wilhelm Macke
Nachsatz zur Reihe „Weltlyrik“: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber „Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute“ (Der polnische „Weltreporter“ Ryszard Kapuscinski). CWM
Gedicht erschienen in: Michi Strausfeld (Hg.): Dunkle Tiger. Lateinamerikanische Lyrik. S. Fischer Verlage, Frankfurt am Main 2012. 384 Seiten. 24,99 Euro. Foto: Wikimedia Commons, Quelle, Autor: Ruiz.