Der Weihnachtsstern
Im frostigen Winter war eine Gegend – gewöhnt an Glut mehr als an Kälte, an Fläche mehr als an Berge – offenbar gut für die Geburt des Kindes, das da kam zu retten die Welt.
Der Schnee fiel in solchen Mengen, wie er nur in der Wüste fällt.
Dem neugeborenen Kind kam alles gewaltig vor:
die Brust der Mutter, die Nüstern des Ochsen, Kaspar, Melchior, Balthasar und deren Geschenke, die man hereintrug. Den Kern bildete aber das Kind selber. Und das war der Stern.
Aufmerksam, ohne zu zwinkern, durch Wolken, die dünn und vag, hat von fern auf das Kind, das da in der Krippe lag, vom anderen Ende des Kosmos, kaum wahrnehmbar, der Stern in die Höhle geschaut. Der das Auge des Vaters war.
4. Dezember 1987
Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg
Wüsste man nicht, wer dieses fast schon etwas naiv-frömmelnde Weihnachtsgedicht geschrieben hat, würde man einen braven Heimatdichter vielleicht aus den Bergen rund um den Tegernsee als Autor vermuten. Alles ist hier zu finden, was man von einem wenig aufregenden, zu Herzen gehenden Weihnachtsgedicht erwartet. Im „frostigen Winter“ wird ein Kind geboren „das kam zu retten die Welt“. Mutter Maria, Ochs und die „Drei Könige“ mit ihren Geschenken sind da.
Geschrieben aber hat das Gedicht ein wegen seines aufbrausenden Temperaments, seines Muts gegen das stalinistische Regime und seiner großen Dichtkunst ausgezeichneter Nobelpreisträger. Von 1962 bis zu seinem Tod im Jahre 1996 schrieb Joseph Brodsky immer wieder auch Weihnachtsgedichte, in denen er sich mit dieser christlichen Urerzählung auseinandersetzte. In einem seinem Selbstverständnis nach durch und durch atheistischen Staat war jeder nicht kritische Bezug zu religiösen Themen immer schon eine Form subversiver Opposition. „Sie führten Krieg gegen die Religion, verfolgten Priester und Gläubige und schlossen Hunderte von Kirchen“ (Orlando Figes „Die Flüsterer“, Berlin, 2008).
In diesem historischen Kontext, den man bei der Lektüre der Texte von Brodsky immer mitdenken muss, kann das Gedicht über den „Weihnachtsstern“ auch anders gelesen werden. Während für die offizielle sowjetische Propaganda, gegen die Brodsky mit den Mitteln der Poesie immer anschrieb, die Rettung der Welt nur durch die Macht des von der kommunistischen Partei dirigierten Proletariats möglich erschien, wird hier ein neugeborenes Kind besungen, „das da kam zu retten die Welt… Und das war der Stern“. Gemeint ist hier nicht der Stern als Symbol der Sowjetmacht, sondern ein Stern, der „in die Höhle schaut. Der das Auge des Vaters war.“
Mit dem dieses Gedicht abschließenden Vers „der das Auge des Vaters war“ gibt Brodsky Raum für verschiedene Interpretationen. In einem System, das nur eine Einheitspartei und eine von dieser gelenkten Einheitskultur vorsieht, ist diese Offenheit für unterschiedliche Lesarten eines Ereignisses bereits ein abweichendes, subversives Zeichen.
„Lyrik“, hat Brodsky einmal geschrieben, „ist eine extrem individualistische Kunst, sie hat etwas gegen Ismen“. Der „Weihnachtsstern“ leuchtet über keinen „Ismus“ und das gibt diesem Gedicht auch diese feine Widerständigkeit gegen die Welt so wie sie ist.
Carl Wilhelm Macke
Das Gedicht ist erschienen in: Joseph Brodsky: Weihnachtsgedichte. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. München, Hanser 2004. 96 Seiten. 12,90 Euro.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM
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