Lauf‘ nicht, Geh langsam:
Du musst nur auf dich zugehn!
Geh’ langsam, lauf’ nicht,
denn das Kind deines Ich, das ewig
neugeborene,
kann dir nicht folgen!
Aus dem Spanischen von Hans Leopold Davi
In seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1983 notiert Elias Canetti an einer Stelle eine sehr lapidare Erkenntnis: „Vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was man ist.“ 1985, also zwei Jahre nach dieser Notiz von Canetti erschien im Insel-Verlag ein Buch, von dem ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Auch der Autor Juan Ramón Jiménez (* 24. Dezember 1881 in Moguer, Andalusien; † 29. Mai 1958 in San Juan, Puerto Rico) war mir unbekannt. Unter dem Titel „Platero und ich“ konnte ich mir nichts vorstellen. Der Untertitel „Andalusische Elegie“ vermittelte vielleicht eine vage Sehnsucht nach dem Süden, die auch mit dem vom Verlag gewählte Umschlaggestaltung noch weiter angeregt wurde. In einen grellgelben Hintergrund hinein war ein Gemälde von Joaquin Sorolla „Garten des Alcazar in Sevilla“ platziert.
Und dann begann ich mit der Lektüre des Buches und war sofort ganz hingerissen von dem poetischen Sog dieser vielen kurzen Geschichten über den Esel Platero und das erzählende Ich. Der Übersetzer Fritz Vogelsang hatte hier einen Ton getroffen, der mich verzauberte, in einen romantischen Sog hineinriss, für den ich irgendwie empfänglich war. Er erinnerte mich an frühe Kindheitslektüren als man die Welt da draußen nicht wahrnahm, sondern sich nur verführen ließ von traumhaft leichten Formulierungen über die Natur, über Tagesstimmungen, über Menschen, denen man als Kind begegnet oder gerne begegnen möchte.
„Wer war’s“, schreibt Fritz Vogelsang in seinem langen Nachwort, „ der von diesem Buch gesagt hat, sein Zauber sei so, daß man manchmal meinen könnte, es sei überhaupt nicht ‚geschrieben‘? Wer es auch war – er hat recht.“ Nach der – wiederholten – Lektüre von „Platero und ich“ entdeckte ich dann auch den Lyriker Juan Ramòn Jimenez, der mit seinen fast immer kurzen Gedichten einen Ton anzuschlagen vermag, dessen Echo man glaubt einen ganzen Tag lang in sich zu hören.
„Lauf’ nicht, geh’ langsam“, „no corras, ve despacio“ ist so ein Gedicht, das einen nicht loslässt, weil es den Lesenden mit einer betörenden Leichtigkeit an das ‚Kind deines Ich‘ erinnert, das dir nicht folgen kann. Deshalb „lauf’ nicht, geh’ langsam: du mußt nur auf dich zugehen!“ 1977 ist im ‚Diogenes-Verlag‘ ein schmales Taschenbuch mit Gedichten von Jimènez (und Zeichnungen von Henri Matisse) erschienen, das es meines Wissens auch immer noch im Handel zu erwerben gibt. In den Antiquariaten findet man es ganz bestimmt.
Dass ich Jimènez entdeckte war ein Zufall. Durch diese zufällige Lektüre bin ich kein anderer Mensch geworden. Aber auf die Lektüre der Gedichte –und von „Platero und ich“ kann ich heute nicht mehr verzichten.
Carl Wilhelm Macke
Juan Ramòn Jimènez‘ Gedicht in der Übersetzung aus dem Spanischen von Hans Leopold Davi ist erschienen in „Herz, stirb oder singe“, Diogenes, Zürich, 1977.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).