Wie Gedichte entstehen
Jeder kennt den Moment,
da man auf die Lichtung tritt
und die Hasen,
nach einer Sekunde des Zögerns,
im Unterholz verschwinden.
Es gibt kein Wort,
das sie aufhalten könnte.
Du bist wohl nicht bei Trost,
sagte mein Vater,
wenn mir die Tränen kamen.
Wie soll man ein Ganzes denken,
wenn man nicht weiß,
was ein Ganzes ist?
Michael Krüger
Es führt ein direkter Weg von diesem Gedicht über das Entstehen von Gedichten zu der „Münchner Rede zur Poesie“, die Michael Krüger im Oktober 2014 unter dem Titel „Das Ungeplante zulassen“ gehalten hat. Wer je einmal ein Gedicht geschrieben hat – und sei es auch nur eine Poesie zur Erheiterung einer privaten Geburtstagsfeier – kann das Zögern beim Abfassen eines lyrischen Werks nachvollziehen, das Krüger hier in seinem Gedicht über ein Gedicht in Worte fasst. „Wie soll man ein Ganzes denken, wenn man nicht weiß, was ein Ganzes ist?“
Wer es weiß, schreibt lieber einen durchkomponierten Roman mit einem klaren Plot und einem Anfang von dem man schon weiß, wo und wie die Geschichte enden wird. Schreiber von Gedichten aber und auch ihre Leser, sind da sehr viel unsicherer und zögerlicher. Sie nehmen vielleicht nur für Sekunden den Hasen auf der Lichtung wahr und ehe sie ihn in seiner ganzen Gestalt zu sehen glauben, ist er schon wieder verschwunden. Aber sie versuchen diesen flüchtigen Moment eines hasenschnell aufblitzenden Gedankens dann in einer Zeile festzuhalten aus der dann vielleicht ein ganzes Gedicht entsteht. Und ob aus diesem festgehaltenen Augenblick etwas Großes und Ganzes wird, bleibt immer offen.
Dieses Ungewisse oder Ungeplante der Lyrik steht auch im Mittelpunkt einer Verteidigungsrede des Dichterischen, die Michael Krüger im Rahmen einer Rede für das „Lyrik-Kabinett München“ gehalten hat. Eine mit Zitaten vor allem zeitgenössischer Dichter angereicherte Rede, die jeder Freund der Lyrik eigentlich immer bei sich tragen sollte. Angesichts des bescheidenen Umfangs (26 großzügig bedruckte Seiten und ungefähr in dem Format eines Tabletts) kann man diese Broschüre auch problemlos überall hin mitnehmen.
„Hinter dem Gedicht“, zitiert Krüger ganz zum Schluss seiner Rede den Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt, „steht der Stachel einer einzigen Idee: der Vollkommenheit.“ Und Krüger fährt dann fort: „Diese paradiesische Vorstellung, die in der geringen Lebenszeit verwirklicht werden muß, aber in der Regel nicht verwirklicht werden kann, ist das ausgesprochene und verborgene Zentrum des Gedichts…Daß die Dichter dieser Idee der unerreichbaren Vollkommenheit näher kommen als andere Schriftsteller, hat die Geschichte der Poesie von den Anfängen bis heute unter Beweis gestellt. Damit ist das Elend nicht aus der Welt geschafft, aber durch die Differenz zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen, wie sie große Poesie immer deutlich macht, wird sichtbar, daß wir noch lange nicht am Ende sind.“
Carl Wilhelm Macke
Michael Krüger: Das Ungeplante zulassen. Eine Verteidigung des Dichterischen. Herausgegeben von Frieder von Ammon und Holger Pils. Stiftung Lyrik Kabinett, München, 2014. 24 Seiten. 12,00 Euro. Foto Krüger: Wikimedia Commons, Quelle, Autor.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).