Geschrieben am 20. Mai 2015 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Pedro Salinas

PedroSalinasWelche Freude, zu leben

Welche Freude, zu leben,
zu fühlen, gelebt zu werden.
Dunkel
der großen Gewissheit sich hinzugeben,
daß außerhalb meiner, sehr fern,
ein anderes Sein mich lebt.
Und wenn die Spione, die Spiegel
– quecksilbrig, kurzsichtig – behaupten, daß ich hier sei, ich, regungslos, mit geschlossenen Augen und Lippen, der Liebe zum Licht mich verweigernd, zur Blume und zu den Namen, so ist doch ganz offensichtlich, daß ich umhergehe nicht mit meinen, mit anderen Schritten, in weiter Ferne, und dort Blumen küsse, Lichter seh, spreche.
Daß es ein anderes Sein gibt, durch das ich die Welt betrachte, weil es mit seinen Augen mich liebt.
Daß es eine andere Stimme gibt, mit der ich Dinge sage, die mein großes Schweigen nicht ahnte:
denn es liebt mich auch mit seiner Stimme.
Das Leben – welche Begeisterung jetzt! – es weiß nicht, was ich tue, was es tut, worin es lebt, doppelt, sein Leben und meins.
Und sollt es mir sprechen
von einem dunklen Himmel, von einer weißen Landschaft, werde ich mich an Sterne erinnern, die ich nie erblickt, die es aber sah, und an Schnee, der dort in seinem Himmel schneite.
Mit der seltsamen Wonne einer Erinnerung, berührt zu haben, was ich nicht berührt, außer mit jenen Händen, den fernen, die ich mit meinen nicht zu ergreifen vermag.
Und ganz entrückt wird der Körper ruhen können, still schon tot. Sterben im vollen Vertrauen darauf, daß dieses mein Leben nicht meins nur war: es war unsres. Und daß hinter dem Nichttod ein anderes Sein mich lebt.

Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf

Qué alegría vivir…

Qué alegría vivir
sintiéndose vivido.
Rendirse
a la gran certidumbre, oscuramente,
de que otro ser, fuera de mí, muy lejos
me está viviendo.
Que cuando los espejos, los espías,
azogues, almas cortas, aseguran
que estoy aquí, yo, inmóvil,
con los ojos cerrados y los labios,
negándome al amor
de la luz, de la flor y de los nombres,
la verdad transmisible es que camino
sin mis pasos, con otros
allá lejos, y allí
estoy besando flores, luces, habo.
Que hay otro ser, por el que miro el mundo, porque me está queriendo con sus ojos.
Que hay otra voz con la que digo cosas
no sospechadas por mi gran silencio;
y sé que también me quiere con su voz.
La vida – ¡qué transporte ya! -, ignorancia de lo que son mis actos, que ella hace, en que ella vive, doble, suya y mía.
Y cuando ella me hable
de un cielo oscuro, de un paisaje blanco, recordaré estrellas que no vi, que ella miraba, y nieve que nevaba allá en su cielo.
Con la extraña delicia de acordarse
de haber tocado lo que no toqué
sino con esas manos que no alcanzo
a coger con las mías, tan distantes.
Y todo enajenado podrá el cuerpo
descansar, quieto, muerto ya. Morirse
en la alta confianza
de que este vivir mío no era solo
mi vivir: era el nuestro. Y que me vive
otro ser de la no muerte.

 

Geköpfte Journalisten, entführte, vergewaltigte, verkaufte junge Mädchen, eine nicht endende Zahl von Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken, Vertreibung Tausender von Menschen wegen ihres Glaubens, Hungerrevolten, Kunstzerstörungen undundund. „Welche Freude, zu leben“. Kann man zynischer, kälter, gleichgültiger auf diese Flut an schlechten Nachrichten über die Grausamkeiten an allen Ecken der Welt reagieren als ausgerechnet ein Gedicht zu zitieren, in dem eine Hymne auf das Leben angestimmt wird…?

Aber man kann das Gedicht vielleicht auch ganz anders interpretieren. Gerade in einer Zeit schwärzester und deprimierendster Nachrichten aus allen Ecken der Welt, ist die Erinnerung an den 1891 in Madrid geborenen Pedro Salinas und sein Gedicht „Qué alegría vivir…“, „Welche Freude, zu leben“ wichtig, trostreich und ermutigend. Geschrieben hat es Salinas 1933 am Vorabend des Spanischen Bürgerkrieges als es keineswegs eine „Freude war, zu leben“.

Zu der Zeit war er noch als Literaturhistoriker am Centro de Estudios Históricos in Madrid tätig. Irgendwann in dieser Zeit hat er sich auch in eine nordamerikanische Studentin verliebt, der er viele, auch ganz wunderbare Liebesgedichte widmete. Vor dem Bürgerkrieg, vor allem der von ihm verhassten spanischen Rechten um Franco, floh er in die USA, wo er dann an verschiedenen Universitäten in Baltimore, später dann in Boston lehrte. 1951 starb er in Boston.

Salinas wird auch der für die spanische Literatur im XX. Jahrhundert sehr einflussreichen „Generation von 27“ zugerechnet. 1927, noch im Schatten der Diktatur von General Primo de Riveras, fand sich eine Gruppe von Schriftstellern zusammen, die die Opposition gegen die Diktatur und die Erinnerung an den 1627 gestorbenen Lyriker und Dramatiker Luis de Gòngora y Argote einte.

Vielleicht war es „nur“ die gerade voll entflammte Liebe zu der amerikanischen Studentin, die ihn diese Hymne auf das Leben schreiben ließ, bei der er das Grauen um ihn herum vergaß. Aber nichts hindert uns heute daran, dieses Gedicht vor dem Hintergrund der auf uns einprasselnden Nachrichten aus den aktuellen Regionen auch als ein Dokument der Hoffnung zu lesen. Es gibt auch „ein anderes Sein“. Welche Freude, zu leben!

Carl Wilhelm Macke

Pedro Salinas‘ Gedicht ist erschienen in: Generation von 27, Gedichte. Herausgegeben von J. M. Castellet und Pere Gimferrer. Gedicht übersetzt von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984. 349 Seiten. Foto: Wikimedia Commons, Quelle.

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).

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