III.
Wie die Männer, die sich vollenden in der Tat oder im Verlangen
oder mit einem warmen Körper am Ende einer Gasse,
im Hintergrund eines Dioramas, wie es sie früher im Kolumbusdenkmal gab, welche die Entdeckung Amerikas im Stil der
Kompositionen des vergangenen Jahrhunderts darstellten,
wenngleich sich das Papier etwas bewegte, auf das die Agaven gemalt waren mit einem grünen Drachen im Hintergrund,
der die Reißzähne zeigte,
und alle im Kanu – die wir das schwarze Gewässer des Lethe durchqueren,
so leidet das Gedicht an dem dringenden Bedürfnis, das Wirkliche zu bezeichnen,
und kann es zugleich nicht bezeichnen: Es braucht Umschreibungen,
um auf das Vorbeiziehen einer Wolke anzuspielen, auf den Sommer,
auf die lauwarme Blumenkrone, die zwischen den Lippen zergeht,
auf das Gefühl der Sehnsucht, auf die Angst, auf die Kontaktauf-
nahme mit den dunklen Bereichen des Gedächtnisses,
auf all das, was ein Gedicht ausmacht und zunichte macht, auf den
Kontaktverlust zum Bewußtsein,
der uns in einem Cocktail erwartet – und dieser Mann dort im Smoking
ist bereits genauso tot wie ein Filmschauspieler.
So wird also das Wort nur in dem Maße zur Falle werden,
wie wir es wollen: Asche oder Musik,
es ist vielleicht eine Bemühung um Klarheit, und die Gleichzeitigkeit von Ebenen
entspricht der Komplexität einer Erfahrung: Das heißt,
daß jener Augenblick zwischen zwei Bahnhöfen bei der Ausfahrt
aus Salzburg auf keine andere Weise erklärbar wäre,
mit den Lichtern – flacher Winkel, ein Kind spielte mit Nebel –
und den düsteren, düsteren Gleisen,
und nur ein Gedicht kann erklären, warum jener schlecht rasierte
und betrunkene Mann, die Augen eines Prinzen hat.
Der Untergang einer Welt: siehe da ihre Größe,
und es ist ganz gleich, ob eine Vamp mit Nerz stürzt oder ein
Schulkamerad, von dem wir uns nur noch an die Hände erin-
nern, die an einem Sommernachmittag unter der Schulbank
zitterten.
Aus dem Katalanischen von Axel Sanjosè
Aus einem längeren Gedichtzyklus einen einzelnen Abschnitt herauszunehmen, ist nicht ganz unproblematisch. Schließlich hat der Autor sein Werk als Ganzes verfasst und da ist jedes Teil nur in dem Kontext der vorhergehenden und der noch folgenden Verse zu verstehen. Aber aus Sinfonien werden ja auch schon mal in einer Rundfunkübertragung nur einzelne Sätze gespielt…
Das Langgedicht von Pere Gimferrer umfasst insgesamt vier Teile und trägt den Titel „Zweite Märzvision“. In seinen einzelnen Passagen oder um es im Filmjargon zu sagen, in seinem „Plot“ ist das Gedicht nicht leicht wiederzugeben. Aber kann man Gedichte überhaupt „nacherzählen“? Man soll sie lesen, möglichst mehrere Male, um so vielleicht nach und nach die mit Worten gemalten Bilder besser zu verstehen.
An einer Stelle des hier vorgestellten III. Teils der „Zweiten Märzvision“ beschreibt Gimferrer selber, was das Gedicht kann und was es nicht leisten kann („So leidet das Gedicht an dem dringenden Bedürfnis, das Wirkliche zu bezeichnen,/ und kann es zugleich nicht bezeichnen/ Es braucht Umschreibungen, um auf das Vorbeiziehen einer Wolke anzuspielen…“). Im 4. Teil heißt es dann: „Ich habe nie die Entfernung erlebt zwischen dem, was wir sagen wollen, und dem, was wir wirklich sagen…“.
Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und den Grenzen poetischer Sprache zieht sich durch das gesamte Werk des 1945 in Barcelona geborenen Pere Gimferrer. Dessen „offene und öffnende, hochreflexive und zugleich unvermittelt sprechende Lyrik ist ein großangelegter Versuch, die erkenntnistheoretische Kluft zwischen Subjekt und Objekt durch die Konstitution von Wirklichkeit im poetischen Akt selbst zu überwinden“ (Axel Sanjosè). Leicht macht es Gimferrer den Lesern seiner oft langen Gedichte wahrlich nicht. Aber ist es Aufgabe der Lyrik, sich dem „Faltenwurf oder dem Stammtisch, dem Brustton oder dem Schmatzen“ anzubiedern wie einmal Adorno rhetorisch gefragt hat…?
Carl Wilhelm Macke
Das Gedicht ist erschienen in: Pere Gimferrer: Die Spiegel. Der öde Raum. Aus dem Katalanischen von Axel Sanjosè. München, 2007. Foto: Quelle.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).