So viele Jahre
und wahrhaftig so dürftiges Wissen,
so leicht versagendes Herz?
Nicht die schäbigste Münze, den Fährmann
zu entlohnen, wenn er herankommt?
– Sieh meinen Vorrat: Gras und rasches Wasser,
ich habe mich leicht erhalten,
auf daß der Nachen weniger einsinkt.
Übersetzung: Friedhelm Kemp
Soll man Philippe Jaccottet (geboren 1925 in Moudon, Westschweiz, Kanton Waadt) nun einen Lyriker oder einen Essayisten oder einen Übersetzer oder einfach „nur“ einen Schriftsteller nennen? Was aber ist damit gewonnen, wenn man für ihn und sein Werk nach einem einzigen Etikett sucht? Und welcher Region und Sprache soll man ihn zuordnen?
Geboren ist Jaccottet in der Schweiz, aber seit Jahrzehnten lebt er in Südfrankreich. Er schreibt in französischer Sprache, spricht aber auch fließend die deutsche und die italienische Sprache. Mein eigener Zugang zu seinem Werk, das in Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, früher auch in Friedhelm Kemp, glänzende Übersetzer gefunden hat, begann über die Lektüre seiner „Landschaften mit abwesenden Figuren“ (1992). Liest man diese Texte, vergisst man schnell, dass sie ja mit Worten geformt worden sind und nicht mit einem leicht über die Seiten streichenden Malerpinsel.
„Seit Jahren habe ich, wieder und wieder, von diesen Landschaften gesprochen, die auch mein Aufenthalt sind. Am Ende wird man, fürchte ich, falls dies nicht bereits geschehen ist, mir vorwerfen, ich suchte dort eine Zuflucht vor der Welt und vor dem Schmerz; die Menschen und ihre Leiden (die doch soviel offenkundiger und hartnäckiger seien als ihre Freuden) zählten nicht genug in meinen Augen. Mir scheint jedoch, wenn einer diese Texte aufmerksam liest, er müsste diese Anschuldigung dort fast völlig widerlegt finden.“
Ja, sie sind dort widerlegt, denn auch dort, wo alle Figuren, alle Menschen abwesend scheinen, sind sie im Geiste des Lesers immer präsent. Sehr ähnlich ergeht es dem Betrachter der scheinbar so leblosen Bilder eines Giorgio Morandi ja auch, die zu einem ganz genauen, meditativen Hinsehen zwingen. und von dieser Konzentration auf das Detail einer Vase (bei Morandi) oder eines Baumes (bei Jaccottet) öffnet sich die genaue Wahrnehmung der Welt und ihrem Leid. Dem Werk von Giorgio Morandi hat Jaccottet ein schmales, aber sehr dichtes eigens Werk gewidmet („Der Pilger und seine Schale“, 2005 )
Wer Gedichte und poetische Texte von Jaccottet mit anhaltender Geduld immer und immer wieder liest, wird empfindlicher für die Schmerzen der Menschen und wenn es auch kaum sichtbare innere Verletzungen und Demütigungen sind. „Misstraue den Bildern. Misstraue den Blumen. Leicht wie die Worte. Weiß man denn jemals, ob sie lügen, uns in die Irre oder ob sie uns auf den rechten Weg führen?“ Und das fordert jemand, der mit leichten Worten Bilder und Blumen zu malen versteht wie nur wenige unter den zeitgenössischen Schriftstellern!?
Carl Wilhelm Macke