Geschrieben am 23. Oktober 2013 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Primo Levi

Primo_LeviAgli amici

Cari amici, qui dico amici
Nel senso vasto della parola:
Moglie, sorella, sodali, parenti,
Compagne e compagni di scuola,
Persone viste una volta sola
O praticate per tutta la vita:
Purché fra noi, per almeno un momento,
Sia stato teso un segmento,
Una corda ben definita.
Dico per voi, compagni d’un cammino
Folto, non privo di fatica,
E per voi pure, che avete perduto
L’anima, l’animo, la voglia di vita:
O nessuno, o qualcuno, o forse un solo, o tu
Che mi leggi: ricorda il tempo,
Prima che s’indurisse la cera,
Quando ognuno era come un sigillo.
Di noi ciascuno reca l’impronta
Dell’amico incontrato per via;
In ognuno la traccia di ognuno.
Per il bene od il male
In saggezza o in follia
Ognuno stampato da ognuno.
Ora che il tempo urge da presso,
Che le imprese sono finite,
A voi tutti l’augurio sommesso
Che l’autunno sia lungo e mite.

16 dicembre 1986 
Primo Levi, Opere, Vol. II, Einaudi, Torino 1988

An die Freunde

Liebe Freunde, ich sage hier Freunde
im weitesten Sinne des Wortes:
Ehefrau, Schwester, Kumpel, Verwandte
Schulfreundinnen und Schulfreunde,
Personen, die man nur einmal getroffen hat
oder mit denen man das ganze Leben Umgang pflegte.
Wichtig ist, dass zwischen uns,
wenigsten für einen Moment,
über einen Abschnitt
ein sichtbarer Faden gespannt ist.
Ich sage euch, Gefährten
auf einem überwucherten und teilweise mühsamen Weg.
Und auch euch, die die Seele,
den Mut oder die Lust am Leben verloren habt:
Oder niemand, oder jemand, oder vielleicht nur du allein,
oder du, der mich liest: erinnere dich an die Zeit,
bevor der Wachs hart wurde,
in dem jeder noch sein Siegel hinterlassen konnte.
Jeder von uns trägt in sich die Spur des Freundes,
dem er unterwegs begegnet ist;
in jedem die Spur des anderen.
Im Guten, wie im Bösen
In Klugheit oder im Wahnsinn.
Jeder von jedem geprägt.
Jetzt, wo die Zeit drängt,
wo die Vorhaben zu Ende kommen,
Euch allen mein stiller Wunsch,
Dass der Herbst lange und mild bleibe.

Übersetzung: Carl Wilhelm Macke/ Pia Elisabeth Leuschner

 

Der Romanautor Primo Levi ist mit seinen Erinnerungen an den Holocaust weltberühmt geworden. In Italien gehören Bücher wie „Se questo è un uomo“ ( dt. Ist das ein Mensch?), La tregua“ (dt. Die Atempause), „Se non ora, quando?“ (dt. Wann, wenn nicht jetzt?), „I sommersi e i salvati“ (dt. Die Untergegangenen und die Geretteten) längst zu den Klassikern des XX. Jahrhunderts und in den Schulen sind sie Pflichtlektüren.

Nur wenige haben wie Levi die Schrecken der Vernichtungslager der Nazis und die Verfolgungen durch italienische Faschisten so genau, so wenig pathetisch, so nüchtern, aber gleichzeitig auch mit größter persönlicher Nähe beschrieben wie Levi. Nicht eindeutig geklärt sind bis heute die Umstände seines Todes. War sein Sturz in das Treppenhaus seiner Turiner Wohnung im April 1987 ein Suizid wie heute allgemein angenommen wird oder handelte es sich um einen Unfall wie Freunde von Levi immer wieder betont haben?

Ich hatte das Glück, über ein Jahrzehnt mit dem ferrareser Anwalt Paolo Ravenna befreundet gewesen zu sein, der einen Suizid seines langjährigen Freundes Primo Levi stets heftig bezweifelt hat. Und nur wenige Wochen vor seinem Tod (im November 2012) zeigte mir der Anwalt Ravenna ein Gedicht von Levi, das ihm in den letzten Jahren seines Lebens immer sehr wertvoll war. Vielleicht ist es nach literarischen Kriterien gemessen kein „großes“, mit denen etwa eines Paul Celan, der immer wieder zusammen mit Levi genannt wird, nicht vergleichbares Gedicht. „WeltLyrik“ ist es wohl nicht und trotzdem ist es für die Nachkommen und Freunde von Levi und Ravenna, der viele seiner Angehörigen in den Nazi-Lagern verlor, ein bleibendes Testament. „Jeder von uns trägt in sich die Spur des Freundes, dem er unterwegs begegnet ist“. Diese Zeile aus dem Gedicht von Levi trägt einen auch über den Verlust eines Freundes hinaus.

Carl Wilhelm Macke

Foto: Wikimedia, Autor unbekannt, Quelle.

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