Mein Venedig
Venedig
meine Stadt
Ich fühle sie
von Welle zu Welle
von Brücke zu Brücke
Ich wohne
in jedem Palast
am großen Kanal
Meine Glocken
läuten Gedichte
Mein Venedig
versinkt nicht.
Ein wunderbarer Weg, sich Venedig zu nähern: man besteigt in Chioggia, am südlichen Ende der Lagune von Venedig gelegen, ein Fährboot. Schippert dann ganz langsam durch die weit in alle Richtungen auslaufende Lagune. Vorbei an kleinen Inseln, einige bewohnt, andere nur von Grün überwuchert. Links und rechts rattern einfache, manche sogar ärmlich verrostet erscheinende Fischerboote vorbei. Segelboote tauchen auf, hin und wieder sogar protzige Segelyachten. Irgendwann werden die Konturen einer Stadt immer sichtbarer. Man nähert sich Venedig, der Serenissima, der heitersten aller Städte. Streiten kann man darüber, ob sie die schönste und heiterste unter allen Städten der Welt ist. Ein müßiger Streit, an dem man sich nicht beteiligen möchte. Einzigartig aber ist sie gewiss. Ein Traum, ein Mythos, ein Sehnsuchtsort. Seit Jahrhunderten, für Menschen aus der ganzen Welt. Für Träumer, für Verliebte, für Melancholiker, für Künstler und solche, die es irgendwann einmal werden möchten. Und sofort kommt einem auch die Schlusszeile aus dem Venedig-Gedicht von Rose Ausländer in den Sinn: „Mein Venedig versinkt nicht“.
Aber schon bald, kurz nachdem man an einem Steg am Riva degli Schiavoni anlegt, schwindet nach und nach die Euphorie mit der man in Chioggia das Boot bestieg. Eine nicht enden wollende Masse an Touristen, die sich durch die Gassen im Umkreis der Piazza San Marco wälzt. Schwitzend, kreischend, manche auch still, aber über allem und unaufhörlich ein in unendlich vielen Sprachen grummelnder Stimmteppich. Wohin man blickt stehen Einzelne, Paare, Gruppen mit Selfie-Stangen herum. „Cheese“ und weiter bis zum nächsten Selfie. Venice is so wonderful…
Es seien bis zu 30 Millionen Touristen, die jährlich diese Märchenstadt am Meer mit den vielen Gassen, Plätzen und noch mehr Kanälen besuchen. Venedig lebt von diesen Touristenmassen und wird von ihnen stranguliert. Brutal und unablässig. Es gibt horrende Pläne von internationalen Investorengruppen, Venedig noch attraktiver zu machen für noch mehr Touristen, um noch mehr Geld am Untergang dieser Stadt zu verdienen. „Mein Venedig versinkt nicht“, eine angesichts dieser Alptraumwirklichkeit schon zynisch erscheinende Gedichtzeile. Und trotzdem widersteht dieses Gedicht von Rose Ausländer dem Verfall Venedigs, dem tatsächlichen und dem befürchteten. „Wenn ich verzweifelt bin/ schreib ich Gedichte/ Bin ich fröhlich/ schreiben sich Gedichte/ in mich“. Vielleicht war Rose Ausländer fröhlich, als sie ihr Venedig-Gedicht schrieb. Konfrontiert mit dem heutigen Venedig wäre sie sicherlich verzweifelt, aber ein Gedicht würde sie trotzdem schreiben. Vielleicht würde sie sogar schreiben: „Mein Venedig versinkt nicht“. Ihr Traum, mein Traum, unser Traum von Venedig bleibt, die Vision von einer anderen Stadt. „Das Gedicht“ heißt es bei Adorno,“ spricht den Traum von einer Welt aus, in der es anders wäre“.
Carl Wilhelm Macke
Das Gedicht ist erschienen in: Rose Ausländer: Mein Venedig versinkt nicht. Gedichte S.Fischer 1982. 131 Seiten.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).