Geschrieben am 19. Dezember 2012 von für Litmag

LitMag-Weltlyrik special

GedichtrezitationenKerzen verboten

– Aus gegebenem Anlass: Zehn Gebote für das Rezitieren von Gedichten. Von Carl Wilhelm Macke.

1. Während der Lesung eines Gedichts ist aus feuerpolizeilichen und versicherungsrechtlichen Gründen das Anzünden von Kerzen strengstens untersagt. Zuwiderhandlungen werden mit einer Geldstrafe von mindestens 100,00 Euro/ Kerze bestraft, die an einen Gedichte edierenden Kleinverlag zu überweisen sind. Ausnahmen können auf Antrag gestattet werden (z.B. an betrieblichen Weihnachtsfeiern oder Werbeveranstaltungen von Unternehmen der wachsverarbeitenden Industrie).

2. Vor, während und nach der Rezitation sind Gitarren-, Blockflöten und Harfenklänge strengstens untersagt. Wird dieser Anweisung nicht Folge geleistet kann dies mit dem sofortigen Abbruch der Lesung oder mit dem zwangsweisen Abspielen der chinesischen Geige durch den jeweils ältesten Anwesenden geahndet werden.

3. Ob ein Gedicht stehend, sitzend, liegend, knieend oder auf dem Kopf stehend, in gebückter oder gerader Haltung vorgetragen wird, muss dem jeweiligen Rezitator überlassen werden. Der seinerseits sollte das Kauen eines Kaugummis, das heftige Niesen, Husten, Schwitzen oder Nuscheln auf ein dem Zuhörer zumutbares Maß während der Lesung reduzieren. Vor der Lesung sollten sowohl der Rezitator wie auch die Zuhörer möglichst auf den Verzehr von Knobloch in jeder Form verzichten.

4. Ein nützliches Gedicht ist ein schlechtes Gedicht und sollte deshalb möglichst nicht vorgetragen werden. Das Rezitieren von Propagandagedichten ist nach dem Fall der Berliner Mauer, den Twin-Tower-Anschlägen vom 11. September 2001 strengstens untersagt. Gedichte, die der Verherrlichung der Familie des Kim Il-Sung dienen können als Beispiel für Humoristische Gedichte zugelassen werden. Zur Überwachung dieser Anweisung sind Mitarbeiter von staatlichen Geheimdiensten nach vorheriger Anmeldung bei der Abendkasse zugelassen.

5. Man darf das Lesen oder Hören von Gedichten niemals erzwingen. Zuwiderhandlungen werden dem UN-Menschenrechtsausschuss und dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung und der örtlichen „Amnesty-Gruppe“ unverzüglich mitgeteilt.

6. Für das Vortragen und das Hören von Gedichten gibt es keine Kleidervorschriften. Auch das Tragen einer Ganzkörperverschleierung (Typ „Burka“) oder einer Maske („Okkupy-Maske“) ist jederzeit gestattet. Smoking und Frack sind im Falle der Nobelpreisverleihung obligatorisch. Bekennende Nudisten sollten sich jedoch im Hintergrund halten, um die Rezitatoren nicht über das eventuell durch den Inhalt der Gedichte geforderte Maß unnötig zu erregen.

7. Das Schließen der Augen ist bei Gedichtrezitationen nur blinden oder wegen ihrer Lichtempfindlichkeit von einem Arzt dringend dazu aufgeforderten Zuhörern gestattet. Gegen das Tragen von Sonnenbrillen oder Taucherbrillen bestehen keine Einwände.

8. In Liebesgedichten hat das Wort „Liebe“ und in Heimatgedichten das Wort „Heimat“ nichts zu suchen. In der nach oben hin offene „Kitsch-Skala“ sollte der „Gemütsfaktor Fünf“ nicht überschritten werden.

9. Reimgedichte auf Festveranstaltungen aller Art sind auf ein allgemein erträgliches Minimum zu reduzieren. Für psychische Schädigungen beim zwangsweisen Zuhörern von Gedichten mit reinen Endreimen sind die Organisatoren der Feste verantwortlich und gegebenenfalls haftbar zu machen.

10. Gedichte, die in öffentlichen oder halböffentlichen Rezitationsveranstaltungen vorgetragen werden, unterliegen weder den Regeln der alten noch denen der neuen deutschen Rechtsschreibung, allerdings sollte auf ein Mindestmaß an Artikulationsfähigkeit des Rezitators geachtet werden. Der Ausschank von Alkohol darf nicht untersagt werden, da ansonsten das Rezitieren insbesondere der schottischen und irischen Lyrik nicht gewährleistet werden kann. Näheres muss vor Ort zwischen den Veranstaltern und den jeweiligen Rezitatoren vertraglich festgelegt werden.

Carl Wilhelm Macke

Foto: Quelle.