Geschrieben am 24. Juni 2015 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Susan N. Kiguli

Kiguli-kl_gerMÜTTER SINGEN EIN SCHLAFLIED

Nach dem Völkermord von Ruanda (1994)

Mütter singen ein Schlaflied
Wenn Dunkelheit über die Bäume fällt
Und die Schatten verschwinden
Die sinnlichen Stimmen säuseln und wispern
Über Gebüsch und hohem Gras
Das Berge von geköpften Toten verbirgt
Und das Aufblitzen der Macheten
Beim Aufschlitzen quiekender Kehlen.
In diesen trostlosen Lagern
Halten Mütter fest an der Melodie des Lebens
Fangen den wehmütigen Wind ein
Dass er Mut in die Seelen von Kindern singt
Die noch nie am Morgen
Eine Schale Porridge hatten
Oder das Zirpen von Grillen am Abend.
Mütter singen ein Schlaflied
Für die großäugigen Gesichter
Die beim Geräusch von Schritten zusammenzucken
Ihre Spielkameraden grinsende Skelette.
Zu Schlafliedern werden die Mütter
Beschwichtigen die trauernden Sirenen
Bringen dem Volk das Mitgefühl zurück.

MOTHERS SING A LULLA BY

After the 1994 Rwandan genocide

Mothers sing a lullaby
As the dark descends on trees
Shutting out shadows.
The sensuous voices swish and swirl
Around shrubs and overgrown grass
Hiding mountains of decapitated dead
And the glint of machetes
That slashed shrieking throats.
In these camps without happiness
Mothers maintain the melody of life
Capturing wistful wind
To sing strength into the souls of children
Who have never known
The taste of morning porridge
Or heard the chirrup of crickets in the evenings.
Mothers sing a lullaby
For the staring faces
Who cringe at the sound of footsteps
Whose playmates are grinning skeletons.
Mothers become a lullaby
Silencing the sirens of sorrow
Restoring compassion to the nation.

 

MEINE MUTTER AUF DREI PHOTOGRAPHIEN

Ihr Gesicht sieht
Makellos aus
Ihre Sexualität elektrisch
In einem Minikleid und schimmernden Strümpfen
Die Mädchen der 1960er
Unglaublich schön
Sie blickt durch die Kamera hindurch
Als reichte ihr Raum über sie hinaus
Zauberisch und verzaubert
In Zeiten, in denen die Freiheitsträume jung waren
Die Geschicke Ugandas Heiß brodelnd.
Meine Mutter in den 1970ern
Trauriger, aber ihre Haut
Immer noch makellos
Die raspelnden Jahre sanft zu ihrer Jugend
Ihr Körper eingehüllt in ein langes Nylonkleid
Eng um die Knöchel und
Die Ärmel bis zu den Handgelenken
Sorgen verborgen in ihrer Haltung
Das geblümte Kleid Hat nichts zu tun damit
Dass sie eine Witwe ist (dank der Regierung)
Sondern entspricht einer Regierungsverordnung
Ihre Stattlichkeit und Eleganz
Scheint den Namen des Kleides zu unterstützen: Amin nvaako.

MY MOTHER IN THREE PHOTOGRAPHS

Her face looks out
Flawless
Her sexuality electric
In a mini dress and sheer satin stockings
The girls of the 1960s
Beautiful beyond belief.
She is looking through the camera
Like her space is here and beyond
Enchanting and enchanted
By the times when dreams of freedom were young
The fortunes of Uganda Hot and sizzling.
My mother in the 1970s
More sombre but her skin
Still flawless
The abrasive years gentle on her youth.
Her body wrapped in a long nylon dress
Stopping her ankles and
Full sleeves touching her wrists
Hooded sorrow in her posture
The flowing dress
Is not because
She is a widow (which is by government action)
But it is a government decree.
Her magnificence and elegance
Seems to support the given name of the dress Amin nvaako.

Übersetzungen aus dem Englischen von Brigitte Oleschinski

 

Große Verbrechen und Massaker mit unendlich vielen Toten nach ihrer historischen Bedeutung zu bewerten, ist immer fragwürdig. „Body Counting“ nennt man das in der oft so zynischen Journalistensprache. Oder auch „Blood sells“.

Jenseits dieser kalt berechnend am Marktwert einer Nachricht orientierten Gewichtung von Verbrechen gibt es aber für die nach 1945 geborenen Generationen sicherlich drei Ereignisse, die unseren zivilen, demokratischen Wertekonsens erschüttert haben oder weiterhin tief verunsichern: der Völkermord von Ruanda im Jahre 1994, dem bis zu einer Million Menschen, vornehmlich von der Tutsi-Minderheit zum Opfer fielen.

Genau ein Jahr später ermordeten serbische Milizen im bosnischen Srebrenica über 8000 Männer und Jugendliche. Und aktuell klagen die tausende von Flüchtlingsopfer an den Küsten des Mittelmeeres die Verlogenheit unseres angeblich so zivilen, humanen und solidarischen europäischen Wertekanons an.

Mit ihrem Gedicht „Mothers sind a Lulla by“ erinnert die ugandische Schriftstellerin Susan N. Kiguli (geb. 1969) an die unfassbar grausamen Ereignisse von April bis Juni 1994 in Ruanda. In deutscher Sprache liegt von Susan Nalugwa bislang ein von Indra Wussow herausgegebener Gedichtband vor: „Zuhause treibt in der Ferne“, dem die beiden Gedichte entnommen wurden.

Eine Mutter steht auch im Mittelpunkt des zweiten hier publizierten Gedichts, in dem Susan Kiguli mit wenigen Worten ihre eigene Mutter anhand von Photographien aus drei Lebensphasen porträtiert.

Es wird Zeit, dass die Stimmen afrikanische Lyrikerinnen in unserem eingeschlossen Eurozentrismus mehr Gehör finden. Der Wunderhorn-Verlag verdient in diesem Zusammenhang ein großes Lob für seine seit vielen Jahren anhaltende Editionsarbeit zum Kennenlernen uns bislang noch nicht bekannter Autorinnen und Autoren aus allen Ecken des afrikanischen Kontinents.

Carl Wilhelm Macke

Das Gedicht ist erschienen in: Susan N. Kiguli: Zuhause treibt in der Ferne. Gedichte. Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Oleschinski. Verlag Das Wunderhorn, 2012. 152 Seiten. 18,90 Euro.

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).

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