Vor langer Zeit schuf der Mensch sich seine Identität.
Jetzt sucht er sie. Auch ich suche – hin und wieder
finde ich etwas, das danach aussieht.
Dieses Etwas schaut (mich an?) mit Spiegelaugen:
immer dasselbe Entsetzen, dieselbe Hoffnung,
dass die Wahrheit zwischen uns ist.
Übersetzung aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Von Tadeusz Dabrowski noch nie etwas gehört und gelesen? Die Ausrede, von diesem Autor sei ja bislang noch nichts aus dem Polnischen übersetzt worden, gilt nicht. Das Buch „Schwarzes Quadrat auf Gold“ ist bereits 2010 erschienen und hat auch ein sehr positives, fast schon hymnisch klingendes Echo gefunden. Mit Dabrowski (geboren 1979) habe die große polnische Lyriktradition eine neue Stimme gefunden, von der noch viel zu erwarten sei.
Und liest man die nun in der renommierten ‚Edition Lyrik Kabinett’ des Hanser-Verlages erschienenen neu übersetzten Gedichte, dann fällt es leicht, in dieses allgemeine Lob seiner Lyrik einzustimmen. Da ist ein Dichter ‚auf der Höhe der Zeit’, nimmt fast immer aktuelle Stimmungen und Provokationen etwa aus dem unentwegten Konsum von Internet-Angeboten auf, bricht sie poetisch, oft auch mit großer Ironie und schenkt dem Leser so eine ganz neue Sicht auf die Welt.
Sein Gedicht über die ‚Identitätssuche’ ist dafür ein gutes Beispiel. Wohin man auch blickt in diesen Jahren im beginnenden zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind die Menschen auf der Suche nach ihrer Identität. Mal melancholisch nach innen schauend oder nostalgisch die gute alte Zeit zurück wünschend. Da hatte man noch eine Identität oder glaube sie jedenfalls zu haben.
Dann wieder gibt es die aggressiven mit militärischer Gewalt geführten Identitätskämpfe wie wir sie etwa in den diversen Regionen des Balkans oder ganz aktuell auch in den Grenzregionen zwischen Russland und der Ukraine erleben. Mit immer ‚demselben Entsetzen und derselben Hoffnung’, dass da noch etwas anderes ist zwischen dem, was wir als ‚unsere Identität’ ansehen und dem, was vielleicht unsere ‚wahre Identität’ ist.
Für den, der die Gedichte von Tadeusz Dabrowski liest, gibt es nicht die ‚eine Wahrheit’, die ‚eine auf alle Zeiten festgefügte Identität’. Man lernt mit jedem Gedicht mehr, sich nicht so ernst zu nehmen. „Dichtung ist/ wenn du’s spürst/ dieses Etwas/ Spürst du’s? Wenn nicht,/ lies das Gedicht/ noch mal“.
Carl Wilhelm Macke
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM
Das Gedicht ist erschienen in: Tadeusz Dabrowski: Die Bäume spielen Wald. Übersetzt von Renate Schmidgall. Hanser-Verlag, München, 2014. 104 Seiten. 15,90 Euro.