Der große Schnee
Erster Schnee heut morgen früh. Der Ocker, das Grüne flüchten unter die Bäume.
Ein zweiter, gegen Mittag. Von der Farbe bleiben nur die Nadeln der Kiefern, die manchmal noch dichter fallen als der Schnee.
Dann, gegen Abend,
hält die Geißel des Lichtes ein.
Schatten und Träume haben gleiches Gewicht.
Ein wenig Wind
schreibt mit der Zehenspitze ein Wort außer der Welt.
Übersetzt aus dem Französischen von Friedhelm Kemp
In den ersten Dezembertagen, wenn es vielleicht zum ersten Mal sich im still ankündigenden Winter einmal schneien könnte, lege ich mir immer den Gedichtzyklus von Yves Bonnefoy „Beginn und Ende des Schnees“ (Dèbut et fin de la neige) in Griffnähe. Und wenn es dann tatsächlich einmal zu schneien beginnt, der Regen kaum merklich sich in etwas flockigere und noch ganz zart weiße Tropfen verwandelt, dann schlage ich das Buch von Yves Bonnefoy auf und beginne zu lesen. „Erster Schnee heut morgen früh. Der Ocker, das Grüne/ flüchten unter die Bäume.“
Geschrieben hat Bonnefoy diesen Zyklus über den Schnee, diesen gewaltigen, aber gewaltlosen Zauberer und Verzauberer unserer Weltwahrnehmung, anlässlich einer Reise nach New England an der amerikanischen Ostküste Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In der zeitgenössischen Lyrik ist mir kein zweiter Zyklus bekannt, in dem es einem Schriftsteller gelingt in so poetischen Worten den ersten Schneefall und das „Neigen des Schnees“ in Worte zu übersetzen wie Yves Bonnefoy. Dem Band in der leider inzwischen eingestellten legendären Lyrik-Reihe des Klett-Cotta-Verlages ist ein längeres Gespräch angefügt, das er mit John Naughton geführt hat.
Eine Stelle aus diesem Gespräch mit Bonnefoy soll hier pars pro toto zitiert werden. „Wir wären schließlich verloren, wenn es nicht die Poesie gäbe…Weil die Aufmerksamkeit, mit der sie dem Klang der Wörter, ihrem Rhythmus, ihrer Musik lauscht, zwischen ihnen einen Bezug herstellt, der über die bloße Begrifflichkeit der Sprache hinausreicht. Für einen Augenblick ist dieses Vorstellen, dieses Netz der Uneigentlichkeit, hinter dem das Dasein sich uns entzog, ausgeschaltet, zerrissen, jedes Ding steht vor uns wie die ganze Welt, in einem Absoluten, das uns willkommen zu heißen scheint. Und darum schreiben wir Gedichte“.
Zu erwähnen, dass Friedhelm Kemp diese Zeilen, wie auch alle Gedichte von Bonnevoy übersetzt hat, ist keine philologische Pflicht alleine. Beide verband zeitlebens eine bewundernswert tiefe menschliche und dem genauen Wort in ihren jeweiligen Muttersprachen verpflichtete Freundschaft. Sie gemeinsam wenigstens für einen Abend anlässlich eines öffentlichen Auftritts erlebt zu haben, ist ein unvergessliches Lebensgeschenk. Friedhelm Kemp starb im März 2011. Der 1923 geborene Yves Bonnefoy hingegen lebt noch und immer wieder fiel auch sein Name im jährlichen „Nobelpreis-Ranking“. Aber Schriftsteller wie Bonnefoy ehrt man vielleicht am besten, indem man ihnen keine Preise, nicht einmal den Nobelpreis verleiht, sondern durch die immer wiederholte Lektüre ihrer Werke. Zum Beispiel jedes Jahr wieder in den Wintermonaten durch die Lektüre vom „Beginn und Ende des Schnees“.
Carl Wilhelm Macke
Das Gedicht ist erschienen in: Yves Bonnefoy: Was noch im Dunkeln blieb/ Anfang und Ende des Schnees. Übersetzt aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart, 1994. 239 Seiten. 22,95 Euro.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM
Foto: Wikimedia Commons, Quelle. Autor: Joumana Haddad.