Ein Stein
„Heftig der Sommer strich durch die kühlen Säle hin,/ blind waren seine Augen, seine Flanke nackt,/ er schrie, und schreckte/ aus ihrem Traum die Schläfer auf,/ die dort in ihres Tages Einfalt schliefen./ Sie schauderten. Anders ging ihr Atem,/ die Hände ließen den Kelch des Schlafes sinken./ Schon kam der Himmel wieder auf Erden an,/ ein Sommernachmittagsgewitter, im Ewigen.“
Ohne die Poesie sind wir verloren
Aus dem Französischen hat Friedhelm Kemp dieses Gedicht von Yves Bonnefoy. Den Übersetzer und den Autor verband eine lange Freundschaft, vielleicht eine der lebendigsten und produktivsten Freundschaften der Nachkriegszeit zwischen einem deutschen und einem französischen Intellektuellen.
Abgedruckt ist das Original des Gedichts „Une Pierre“ und seine Übersetzung in einem Band der leider inzwischen eingestellten legendären Lyrik-Reihe des Klett-Cotta-Verlages. Den hier veröffentlichten Gedichten ist ein längeres Gespräch angefügt, das Yves Bonnefoy mit John Naughton geführt hat.
Eine Stelle aus diesem Gespräch mit Bonnefoy soll hier pars pro toto zitiert werden. „Wir wären schließlich verloren, wenn es nicht die Poesie gäbe…Weil die Aufmerksamkeit, mit der sie dem Klang der Wörter, ihrem Rhythmus, ihrer Musik lauscht, zwischen ihnen einen Bezug herstellt, der über die bloße Begrifflichkeit der Sprache hinausreicht. Für einen Augenblick ist dieses Vorstellen, dieses Netz der Uneigentlichkeit, hinter dem das Dasein sich uns entzog, ausgeschaltet, zerrissen, jedes Ding steht vor uns wie die ganze Welt, in einem Absoluten, das uns willkommen zu heißen scheint. Und darum schreiben wir Gedichte“.
Auch dieses Gespräch hat Friedhelm Kemp ins Deutsche übersetzt. Beide verband zeitlebens eine bewundernswert tiefe menschliche und dem genauen Wort in ihren jeweiligen Muttersprachen verpflichtete Freundschaft. Sie gemeinsam wenigstens für einen Abend anlässlich eines öffentlichen Auftritts erlebt zu haben, ist ein unvergessliches Lebensgeschenk. Friedhelm Kemp starb im März 2011.
Der 1923 geborene Yves Bonnefoy hat Kemp noch um fünf Jahre überlebt. Anfang Juli 2016 ist jetzt auch Yves Bonnefoy verstorben. Noch in seinen letzten Lebensjahren wurde er immer wieder als ein dem Nobelpreis würdiger Dichter genannt. Er hat ihn nicht erhalten, aber ist das wirklich wichtig? Schriftsteller von der Größe eines Yves Bonnefoy ehrt man doch nicht durch Preise – auch nicht durch den Nobelpreis – sondern durch die immer wiederholte Lektüre ihrer Werke. „Sie bleibe, diese Welt!“ Irgendwo in seinen Gedichten habe ich diesen so unglaublich einfachen, so unfassbar starken Wunsch einmal gelesen. Keine Banalität, kein Slogan, keine Plattitüde. Einfach unverzichtbarer tiefer Wunsch. Man kann ihn immer mit sich im Kopf herumtragen. Yves Bonnfoy hat ihn uns geschenkt.
Carl Wilhelm Macke
Das Gedicht ist erschienen in: Yves Bonnefoy: Was noch im Dunkeln blieb/ Anfang und Ende des Schnees. Übersetzt aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart, 1994. 239 Seiten. 22,95 Euro. Foto: Wikimedia Commons, Quelle. Autor: Joumana Haddad.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).