Geschrieben am 8. Dezember 2010 von für Litmag, Porträts / Interviews

Live-Lesung: Melinda Nadj Abonji

Die Ton-Trägerin

– Für ihren Auftritt anlässlich des Macondo-Festivals 2010 in Bochum hat die Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji einen Ausschnitt aus ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ gemeinsam mit dem Beatboxer Jurczok 1001 einstudiert. Der gleichmäßig schwingende Sprachfluss Abonjis wird zunächst dezent untermalt von Windhauch und fernem Eisenbahngeratter, auch die Violine unterstützt die Dramaturgie des Textes. Die Lesung wurde von Thomas Frank für den WDR mitgeschnitten; Macondo und CULTurMAG präsentieren exklusiv Auszüge aus der Veranstaltung.

Melinda Nadj Abonji – Live (1)

Während Deutschland sich angeblich abschafft, schafft die Schweiz demnächst aus, und zwar unliebsame Ausländer. Doch auch wenn Strömungen in beiden Ländern offenbar von fremden Kulturen nichts Gutes erwarten, haben die Jurys der jeweiligen nationalen Buchpreise erkannt, dass die Stimme einer jungen Autorin mit ungarisch-serbischen Wurzeln eine Bereicherung für die deutschsprachige Literatur darstellt: Melinda Nadj Abonji schreibt in ihrem zweiten Roman „Tauben fliegen auf“ von Verlust und Finden von Heimat, gibt dem marktschreierisch Stammtischthema Integration eine melodische Stimme.

Melinda Nadj Abonji – (Live (2)

In ihrem Debüt „Im Schaufenster im Frühling“, mit dem sie zum Bachmann-Wettbewerb 2004 eingeladen war, näherte sie sich verschiedenen Ebenen von Gewalt und Missbrauch. Äußerst kunstvoll komponiert, in wiederkehrenden Handlungsschleifen und Schnitten, ist bereits dieser Roman zutiefst rhythmisch und melodisch. Der Auszug vermochte damals die Klagenfurter Jury nicht zu überzeugen, was die Autorin dazu verleitete, kurz vor der Preisvergabe (übrigens an Uwe Tellkamp, der 2008 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde) ein Mikrophon zu ergreifen und den Wettbewerb als eben den Medienzirkus zu brandmarken, als der er in der Szene längst bekannt ist. Als Stimme einer gekränkten Autorin verpuffte diese Brandrede sang- und klanglos.

Buchpreisträgerin gleitet auf den Wellen mehrerer Sprachen

Der fertige Roman hingegen konnte einige Rezensenten mitreißen und so ließ sich die Autorin auch nicht lange von den Klagenfurter (Fehl-)Urteilen irritieren und machte sich an die Arbeit zu einem neuen Roman. Mit „Tauben fliegen auf“ verarbeitet sie nun Elemente ihrer eigenen Biografie. Die eigene Familie ist das Vorbild für die Familie Kocsis, Mitglieder der ungarischen Minderheit in Serbien, die versuchen, in der Schweiz Fuß zu fassen. Die aus der Vojvodina stammende Familie scheint es geschafft zu haben: Von einer Wäscherei über eine Cafeteria hin zu einem alteingesessenen Café hat sich der Familienbetrieb entwickelt, in der Tasche befindet sich der Pass mit weißem Kreuz. Doch so richtig aufgenommen fühlt sich die Familie in der Schweiz nicht – und in der früheren Heimat, die sie regelmäßig besuchen, gelten sie ebenfalls als Außenseiter. Als Jugoslawien auseinanderbricht, bilden sich plötzlich zwischen ehemaligen Nachbarn und Freunden tiefe Gräben und der lange Arm des Krieges reicht bis in die Küche des Cafés hinein:

„Und es ist absurd und absolut möglich, dass einer meiner Cousins desertiert, weil er als Ungar nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, und es kann sein, dass ihn einer von Draganas Cousins erschießt, weil er bei der jugoslawischen Volksarmee kämpft und Deserteure erschossen werden; es kann aber auch sein, dass einer von Draganas Cousins desertiert, weil er sich als Bosnier fühlt, als bosnischer Serbe nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass dann mein Cousin Draganas Cousin erschießt, weil mein Cousin nicht desertiert ist, für die jugoslawische Volksarmee kämpft, um vielleicht sein eigenes Leben zu retten; aber möglicherweise werden beide erschossen, von einem Muslim, einem Kroaten, einem Blindgänger, von einer Mine zerfetzt, irgendwo, an einem unbekannten Ort, im Niemandsland, während wir hier zusammen Brötchen streichen, in unserer Küche.“

Der Ich-Erzählerin Ildiko fällt es schwer, ihr Lächeln als Serviererin aufzusetzen, während sie gleichzeitig eine Art Heimweh verspürt und vor allem großen Schmerz und Sorge um all die Verwandten und Freunde, die nicht in die Schweiz geflohen sind und zwischen den Fronten Position beziehen müssen.

Mitreißende Handlung UND virtuoser Sprachgebrauch

Das Gefühl, nirgendwo wirklich dazu zu gehören, inmitten eines Sprachengewirrs aufzuwachsen, das kennt Melinda Nadj Abonji nur zu gut. Die beinahe babylonische Vielsprachigkeit ihrer Kindheit zwischen Ungarisch, Serbisch, Zürichdeutsch und Hochdeutsch hat allerdings ihr Gespür für Sprachmelodien und Rhythmen geschärft. Melinda Nadj Abonji ist nicht nur Autorin, sondern auch Musikerin (Violine und Gesang) und erarbeitet schon seit den späten 1990er-Jahren gemeinsam mit dem Raplyriker und Human Beatboxer Jurczok 1001 Performances mit Sprache, Musik und Theater. Auch für „Tauben fliegen auf“ gibt sie an, in erster Linie „mit dem Ohr“ zu arbeiten. Es ist viel weniger die Handlung als vielmehr der Ton eines Textes, der der Autorin am Herzen liegt. In einem Interview mit der ZEIT erklärte sie: „Ich möchte keine Geschichte erzählen, ich möchte vor allem Sprache erfinden. Ich möchte meinen Text lesen und entzückt sein. So dass ich sage: Das ist sprachlich etwas Innovatives. An meiner Sprache kann ich jahrelang arbeiten, an einem Thema nicht.“

Abonji und Jurczok 1001

In „Tauben fliegen auf“ ist allerdings auch das Thema von gesellschaftlicher Relevanz, so dass sich hier eine wundervolle Symbiose entwickelt aus mitreißender Handlung und virtuosem Sprachgebrauch. Laut gelesen entfaltet Melinda Nadj Abonjis Tonfall seine ganze Pracht – insbesondere wenn die die Autorin und Musikerin selber liest.

Frank Schorneck

*CULTurMAG wird Ihnen in Zusammenarbeit mit der Literaturzeitschrift Macondo in den nächsten Monaten regelmäßig ausführliche Ausschnitte von interessanten Lesungen anbieten.

Aktuelle Lesetermine finden Sie auf der Homepage von Melinda Nadj Abonji und Jurczok 1001. Zu MACONDO – Die Lust am Lesen.
Fotos: Frank Kurczyk