Donegal auf der Brust
In Sweeneys Irlandgedichten, von Jan Wagner genau und gefühlvoll übersetzt, regieren weder Klischee noch Folklore, sondern konkrete, alltägliche Dinge und erstaunliche Details. Von Gisela Trahms
Ein grüner Hut trudelt über einen Platz. Warum läuft niemand hinterher und versucht ihn zu fangen? Und der Wind ist doch gar nicht so stark, dass er Hüte vom Kopf risse? Vielleicht – und schon entsteht in zwanzig Zeilen eine Geschichte über einen „all-green man / thinking of his wife in another bed“, ein Phantasiestück in Grün, sozusagen. So unspektakulär der Auslöser sein mag, so reizvoll sind die daraus erwachsenden Bilder. Und mühelos nachzuvollziehen: keine dunklen Metaphern, keine gelehrten Anspielungen oder undurchsichtigen Verknüpfungen. Da erzählt jemand oder schildert und öffnet uns die Augen für Alltägliches wie Erstaunliches.
Trotz häufiger Ausflüge ins Irreale bleibt der Ton der Gedichte eher nüchtern. In kurzen Sätzen, kurzen Versen kommen sie daher, die unprätentiöse Sprache gibt uns ein Gefühl der Sicherheit, obwohl das, was erzählt und geschildert wird, so komplex und unsicher, so voller Schreckensmöglichkeiten ist wie die Wirklichkeit. Trifft uns schon morgen die „Stunde Null“? Werde ich verschleppt und ausgesetzt? Und der dunkle Gang, der immer weiterführt durch Türen, die sich von selbst öffnen, bis man schließlich stehen bleibt, nur um die Türschlösser einzeln hinter sich zuklicken zu hören – wer hätte sich nicht schon einmal im Traum darin wiedergefunden? Und nicht auch im sogenannten richtigen Leben?
Neben den düsteren Szenarien gibt es listige, skurrile, absurde, ganz wie man das bei einem irischen Autor erwartet, und natürlich werden die unterschiedlichen Gestimmtheiten aufs schönste vermischt. Irland erscheint so, wie es geliebt wird: Die See strömt durch die Gedichte und lagert die Knochen der Ertrunkenen darin ab, hin und wieder lächelt ein Geist, das flüssige Grundnahrungsmittel ist Whiskey. Trotzdem regieren hier weder Klischee noch Folklore, sondern das konkrete und oftmals harte Detail. In „The House“ etwa schildert Sweeney das Haus, in dem er aufwuchs: „Downhill / half a mile was the Atlantic, / with its ration of the drowned – / one of whom visited the house, / carried there on a door.“ Man sieht es sofort: Das einsam gelegene Haus und die, da keine Bahre vorhanden ist, hastig ausgeklinkte Tür, auf der der Tote herangeschleppt wird, und man sieht auch das Kind, das steht und starrt.
„Sweeney“ ist in Irland ein poetischer Name. Eine Sage berichtet vom König Sweeney, der, von einem Priester verflucht, sich plötzlich für einen Vogel hielt und im Wald fast verhungerte. T.S. Eliot schrieb zwei Gedichte über diese Figur. Matthew Sweeneys Version beginnt heiter und selbstironisch, dem Ich wachsen tatsächlich Federn, aber, wie man heute weiß, ist so etwas ja bloß „psychsomatisch.“ Als unglückliche Krähe schafft das Ich es dann gerade noch auf einen Baum und muss mit ansehen, wie seine keineswegs betrübte Frau die Bücher wegtragen lässt und schließlich mit einem neuen Mann daherkommt. Sweeney fliegt gegen die Wand und erzählt, was unmöglich ist: den eigenen Tod. Das ist, obwohl todtraurig, so witzig und voller Charme, dazu so unangestrengt formuliert, dass man Jan Wagner zustimmt, der in seinem Nachwort darlegt, warum Sweeneys Gedichte auch denjenigen bezaubern, der sich „immun gegen Lyrik“ glaubt.
Wagners Übersetzung besticht durch Genauigkeit und Gefühl. Sweeney ist ja scheinbar ein leichter Kasus für Übersetzer: Keine Reime, keine hermetischen Sprachfiguren, keine den „Ton“ dominierenden Metren, sondern „einfach“ ein sanftes Parlando. Aber ein Blick auf eine Doppelseite zeigt sofort jene Eigenheiten der beiden Sprachen, die die Übertragung erschweren: Sweeneys Verse sind in der Regel kurz, die deutschen müssen länger sein. Wie etwa soll man die sechs Wörter „ride the toss-&-turning horse“ wiedergeben? Beschrieben wird damit das Sich-Hin- und Herwälzen bei Schlaflosigkeit, ein geniales Bild, dessen Knappheit keine Übersetzung retten kann, weil das Deutsche anders konstruiert ist. Wagner versucht nicht, diese Unterschiede zu leugnen, sondern leitet den Leser sacht auf die Spur des Gemeinten, und zwar so elegant, dass auch die Lektüre der Übersetzung Vergnügen bereitet.
Wie so viele irische Autoren hat Sweeney, 1952 in Donegal geboren, lange Jahre auf dem Kontinent zugebracht. Zurzeit lebt er „in Berlin, Graz und Timisoara“ (das ist Temeschwar, Rumänien), wie uns der Klappentext informiert. Die Gedichte sprechen auch von Exil und Heimweh, etwa wenn der Schweißfleck auf dem T-Shirt die Umrisse Irlands annimmt und das Ich verstört auf die heimische Grafschaft „über der rechten Brustwarze“ herabschaut. Beim ersten Lesen klingt das wie ein Scherz, beim zweiten spürt man den Schmerz und die Sehnsucht. Der Leser jedenfalls wird zum Irland-Liebhaber, willig folgt er dem Autor ans Meer, in den Wind, den Regen; in die Einsamkeit, unter die Trinkgenossen oder ins Kloster, von dem das hintersinnige Titelgedicht so gewitzt erzählt. Sweeneys warme, sensible Stimme gibt nicht vor, die Lebensrätsel lösen zu können, die sie in so lebhaften Farben vor uns ausbreitet, aber sie weiß genau, wovon sie spricht.
Gisela Trahms
Matthew Sweeney: Rosa Milch. Gedichte.
Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Jan Wagner.
Berlin: Berlin – Verlag 2008. 96 Seiten. 16,00 Euro.