Geschrieben am 22. Oktober 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (80): Mila Getz

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Aquarelle aus Griechenland” von Mila Getz.

Mila Getz

Nachrichten von der Großtante

Vor sieben, acht Jahren fand ich einen dicken Brief im Postkasten. Absender war eine Anwaltskanzlei im Niederrheinischen. Sie teilte mir mit: In Aachen sei eine alte Dame verstorben, und ich stehe auf der Liste der Erbberechtigten.

Auf einen solchen Brief wartet man eigentlich sein ganzes Leben. Ein Wink des Himmels, ganz und gar unerwartet. Leider war die Liste allerdings ziemlich lang und mein Erbanteil auf „1/180.“ Taxiert. So ließ ich die Euphorie mal lieber nicht ins Kraut schießen.

Der Verstorbenen selbst war ich nie begegnet. Ihr Name aber sagte mir durchaus etwas. Unsere Mutter, eine Aachenerin, hatte oft von ihrer Kusine Mila Getz geschwärmt: Eine Künstlerin sei die, und was für eine. Die könne malen! Und Teppiche knüpfte sie auch noch. Im Nimbus dieser fernen Verwandten, ungeprüft, bin ich aufgewachsen. Warum Mutter nie einen Kontakt zu der bewunderten Kusine suchte, das fragten wir Kinder uns damals nicht.

Und jetzt, nach Jahrzehnten, taucht diese Mila Getz wieder auf, das Kindheitsphantom, beerbt mich sogar noch mit einem 1/180. ihres Vermögens. Ein Künstler, der nach seinem Tod etwas anderes hinterlässt als Schulden: Höchst verdächtig! Umgehend machte ich mich auf die Spuren ihres Werks. Und entdeckte, was ich kaum erwartet hatte: Qualität.

Griechenland. Die Dunkelheit einer mediterranen Nacht, sternenklar. Fischer fahren aus auf Fang. Mit drei Farben – zweierlei Blau und dem weißen Hintergrund des Papiers – kommt Mila Getz auf ihrem Aquarell aus. Von Din A 4 ist es auf Postkartengröße verkleinert und dient als Einladung zu einer Aachener Ausstellung kurz vor Ende des Jahrtausends. (Da geht die Malerin auf die Neunzig zu.)

Das Bildthema ist vor Ort aufgenommen. Einen ganzen Stoß dieser Blätter gibt es in ihrem Nachlass, die sie in Frankreich, Marokko, Sizilien und eben Griechenland angefertigt hat – immer wieder Griechenland. Dort, um das ganze Mittelmeer herum, war sie sommers unterwegs, die kleine Staffelei im Rucksack, Wasserfarben und eine Flasche. Alle ihre Blätter haben eine Sicherheit des notwendig schnellen Zugriffs. Korrigieren gilt da nicht. Es muss sitzen – oder weg damit. Und bei Mila Getz hat es sehr oft gesessen. Da konnte sich jemand verlassen auf sein Handwerk. Das garantiert noch keine große Kunst, aber ein gutes Niveau hält es immer.

Bis zuletzt hat Mila Getz in Interviews auf ihre lange akademische Lehrzeit gepocht: elf Jahre an den Akademien dieses Landes, in Aachen, Nürnberg, Hamburg und ab 1938 Freie Malerei in Berlin. Denn im Vorjahr ist ihr Mann gestorben, der Architekt Wienand Wirtz, gemeinsame Lebenspläne in Aachen sind zerbrochen. Da geht die Siebenundzwanzigjährige nach Berlin und setzt in einem zweiten Anlauf ihr Studium fort, für weitere sechs Jahre: Landschaft, Akt, Porträt. Da sie aus einer alten Handwerkerfamilie stammt, ist ihr eine solide Ausbildung in Fleisch und Blut übergegangen. Sie wird sie durch ihr gesamtes Künstlerleben begleiten – und tragen. Vielleicht auch hemmen?

Ein erstaunliches Dasein öffnet sich, das mir allen Respekt abnötigt. Mila Getz war eine freie Künstlerin im ernsten, im wesentlichen Sinn des Wortes. Kunst war ihr Beruf: Broterwerb, Lebenserhalt, Überlebensmittel. Allein mit der Arbeit ihrer Hände ging sie in dieser Wirtschaftswelt ihren Weg, unabgefedert von irgendwelchen Nebeneinkünften. Kein verdienender Ehemann hinter ihr, kein Familienbesitz, keine Institution mit wohl klingendem Namen. Sie war sich nicht zu schade, in den bitterarmen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Wandteppichen über Land zu tingeln und sie in Wirtshäusern zu verkloppen. (Ihre „Klamottentouren“ nannte sie das.) Dann kam die fettere Zeit: Mit der Regelung von „Kunst am Bau“, wonach zwei Prozent der Bausumme für bildende Kunst verwendet werden mussten (selige Zeiten!), erreichten sie Großaufträge: Gobelins und Glasfenster für Behörden, Schulen, die TH in Aachen. Das alles hatte sie ja von der Pike auf gelernt, die brave Handwerkerin.

Finanziell war das wohl ihre beste Phase. 1967 konnte sie sich sogar auf dem elterlichen Grundstück ein großzügiges Atelier errichten, in dem sie ein paar Helferinnen an den Hochwebstühlen beschäftigte. Und sommers erholte sie sich davon in den Ländern des Mittelmeers mit ihrer Malerei, hauptsächlich mit Aquarellieren.

Während sie an einem Gobelin bis zu einem Jahr saß, durfte sie hier spontan sein, und musste es auch. Das Licht Griechenlands, das Meer und der Himmel, immer wieder, in allen Tönen des von ihr favorisierten Blau. Der griechische Himmel, schwärmte sie in einem späten Interview, sei ein „sanftes Seidentuch“.

Ja, diese Großtante muss ein dickköpfiger, sperriger Mensch gewesen sein, widerständig den jeweiligen ästhetischen Moden gegenüber, die während eines langen Arbeitslebens über sie hinweggegangen sind. Worauf sie sich verließ, die Tochter eines Dachdeckers, war ihr Handwerk. Auch das Genie muss durch das Handwerk hindurch. Es muss da sein – als eine unlesbare Geheimschrift unter dem Bild. Die Arbeit des Künstlers ist es dann, die Spuren des Handwerks im Werk zum Verschwinden zu bringen.

Handwerk ist wahrhaftig nicht alles. Doch ohne Handwerk ist nichts wahrhaftig.

Mehrere der Aquarelle von Mila Getz hängen jetzt bei, dazu ein kleiner Gobelin neben dem Schreibgerät. Und ich freue mich Tag für Tag daran, mit mehr als 1/180. meiner Begeisterungsfähigkeit.

Der Kindheitsmythos war kein frommes Märchen.

Michael Zeller

Mila Getz: Aquarelle aus Griechenland. Einladungskarte zur Ausstellungim Suermondt-Ludwig-Museum Aachen, 1996.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung BruderTod erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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