Geschrieben am 26. November 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (85): Gerhard Richter

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Zwei Liebespaare” von Gerhard Richter.

Richter

Sex, Grau in Grau

Vier junge Menschen, zwei Frauen, zwei Männer, in zärtlicher Umarmung, lachend, froh. Es ist Sommer, und halbnackt lagern sie sich, in Badekleidung, in einem lichten Wäldchen. Hier, unter sich, brauchen sie ihre erotischen Tändeleien vor niemandem zu verstecken. Sie sind sich schon sehr nah gekommen, ein Träger des Büstenhalters ist bereits angelupft. Na, lange dauert das nicht mehr bei denen, dachte ich die Woche über, die ich ihrem eingefrorenen Treiben zusah, und freute mich mit ihnen: Gleich geht’s zur Sache.

Das Thema des Bildes hat mich also, wie man so sagt, durchaus angemacht. Da spielt sich die fröhliche Unbeschwertheit von Jugend ab, in die man, gerade wenn sie für einen selbst längst nicht mehr gilt, allerlei romantische oder deftigere Wünsche hinein phantasieren kann. Ist es nicht wirklich einladend, wie das junge Mädchen quer über das Bild sich ausstreckt, so gut wie nackt, und sich im Arm des jungen Mannes leicht und unbeschwert ihres Lebens freut? Über ihr lachendes Gesicht gebeugt der Kopf des Freundes, in Kussnähe, hat schon mal seine Finger vorgeschickt, dass bald auch die letzte Hülle falle und nichts mehr den Haut-an-Haut-Kontakt ihrer Körper stört. Die paradiesische Ur-Situation von Adam und Eva, die der Menschheit ihr Dasein sichert.

Allein sind die beiden nicht bei ihrem Glück. Eng an ihrer Seite ein zweites Pärchen, von dem nur die Köpfe zu sehen sind, dazu noch irgendein Knie und der Arm rechts aus dem „Off“, der sich wie absichtslos auf dem Oberkörper der Ausgestreckten verliert. In körperlicher Intimität sind die jungen Menschen einander nah, ein Gruppen-Individuum der Lebens-Lust. Sexualität findet hier nicht zwischen zweien im stillen Kämmerchen statt, sie feiert sich in der freien Natur zusammen mit Gleichgesinnten.

„Zwei Liebespaare“ heißt das Bild, das Gerhard Richter 1966 gemalt hat. In den Mittsechziger Jahren entstand die Werkgruppe „Fotobilder“ in seinem so verwirrend wandlungsreichen Schaffen. Auslöser für Richters Malerei waren damals die Aufnahmen von Amateurfotografen, bei allerlei privaten Gelegenheiten. Da damals Schwarz-Weiß fotografiert wurde, bevor Kodacolor seinen Siegeszug weltweit antrat, blieb Richter seinem Ausgangsmaterial treu und malte Grau in Grau. Dabei projizierte er das Foto auf die Leinwand, die vor ihm stand, und malte darüber weg seine Bilder, in größtmöglicher Freiheit: milchig unscharf, wie hier, oder ganz und gar verschwimmend bis zur Unkenntlichkeit. Keine Sekunde bleibt der Betrachter im Zweifel, dass es sich hier um Malerei handelt.

Später einmal hat Richter das Verfahren der „Fotobilder“ als eine Befreiung von der Subjektivität bezeichnet. Auf der Matrix dieser Liebhaber-Knipsereien konnte er vollkommen unbeteiligt den Pinsel führen, in „aufmerksamer Gleichgültigkeit“, entsprechend Richters Credo, der Blick auf ein Gemälde müsse so willkürlich sein wie der Blick aus dem Fenster: Was sich da draußen abspielt, ist weder zu deformieren noch zu idealisieren. Das Bild da draußen ist, wie es ist, „richtig“. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln.

Dadurch bleibt das Dargestellte offen, auch wenn es sichtlich „gemacht“ ist. Der Maler tritt zurück und gibt Platz. Es ist der Betrachter, der die Geschichte seiner Gefühle erzählt, seine Hoffnungen herauslässt oder seine Ängste.

Das Prinzip der „Fotobilder“ hat Gerhard Richter immer wieder aufgegriffen, am spektakulärsten wohl in dem Stammheim-Zyklus von 1988, der zu seinem internationalen Durchbruch beitrug: die fünfzehn Grisaillen der deutschen Terroristen Meinhof, Ensslin, Baader, Meins und Raspe, die im „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977 gewaltsam zu Tode kamen. Heute hängen sie in New York im Museum of Modern Art.

In Deutschland wurde ein Teil des Zyklus‘ zum ersten Mal im Frankfurter „Portikus“ gezeigt, um 1990, und ich erinnere mich gut, wie verstört ich damals war von Richters abgemalten Leichen der Terroristen, wie sie einem Ende der siebziger Jahre tagtäglich in Zeitungen und im Fernsehen um Augen und Ohren geschlagen wurden. Ich hatte gerade meinen Roman „Follens Erbe“ herausgebracht, in dem ich mir die schlimmen Ereignisse des Jahres 1977, das auch für mich einen Lebenseinschnitt markiert, von der Seele geschrieben hatte. Eine qualvolle Arbeit. Und meine Irritation versteifte sich, je länger ich mir Richters Schwarz-Weiß-Bilder anschaute, zu Zorn und Ablehnung. Da malte dieser Richter einfach aus der Zeitung die Täter (und Opfer) einer hochdramatischen Epoche ab, als seien sie – ja: zwei nette Liebespärchen in Badehosen und Bikini in Gottes freier Natur, kurz vorm Vögeln.

Die (vor)urteilsfreie Kälte im Blick dieses Malers, ob er beinharte Porno-Szenen malte oder ausgemergelte KZ-Insassen, konnte ich mir damals noch nicht zu eigen machen, und so ging ich ein paar Jahre lang Richters Bildern aus dem Weg. Ein neuer Blick auf ihn gelang mir erst wieder, als ich irgendwann seine Kerzenbilder entdeckte. Großformatige Gemälde in warmen dunklen Tönen mit nichts als einer brennenden Kerze. Ja, da ist mir ein Licht aufgegangen, in mir selbst. Davon zehre ich bis heute.

Michael Zeller

Gerhard Richter: Zwei Liebespaare. Öl auf Leinwand. 115 x 160 cm, 1966.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt: wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung BruderTod erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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