Geschrieben am 25. März 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (96): Christo und Jean-Claude

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Der verpackte Pont Neuf” von Christo und Jean-Claude.

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Wozu ist Kunst eigentlich gut?

Als ich am Morgen des 16. August 1977 das Radio im Bad anstellte, wie immer damals den amerikanischen Soldatensender AFN, bekam ich schnell mit, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein Lied von Elvis Presley nach dem anderen ging über den Äther. Den Ansagen dazwischen fehlten die üblichen Albereien. Dann wurde trockenen Mundes die Meldung wiederholt: ELVIS DIED TONIGHT. Der Schock fuhr mir in die nackten Glieder. Als sei es ein Stück eigenen Todes. Morgenmantel über und unrasiert an die Schreibmaschine und ein Gedicht runter gefetzt auf meinen Elvis, ohne nachzudenken. Das pure Gefühl.

Mit den zwei Seiten fuhr ich gleich los nach Kassel, zur sechsten „documenta“. Erschüttert, aber auch abgelenkt von dem Text in der Jacke, an dem zu feilen war.

In dieser Stimmung entdeckte ich Christo. Auf der „documenta“ lief ein Film von seiner letzten Aktion, die er im Vorjahr im Kalifornien durchgeführt hatte, der „Laufende Zaun“ („Running Fence“): Über die weitgehend nackten Hügel nördlich von San Franzisco läuft auf und ab ein Zaun aus weißen Stoffplanen, fünfeinhalb Meter hoch, auf der unglaublichen Länge von vierzig Kilometern, um am Ende in den Wassern des Pazifik – Go West! – zu versinken. Mehrere tief in mir sitzende Mythen wurden in dieser Stunde in mir angesprochen und machten mich stumm.

Das Anschauen von Christos „Laufendem Zaun“ vor über 35 Jahren, nicht einmal mit eigenen Augen, sondern nur als Film, gehört zu meinen haltbarsten Erlebnissen mit Kunst. Es geschah unter Bedingungen, die nicht wiederholbar sind.

Doch das Leben geht weiter, und die Kunst. Christos nächste Aktivitäten waren wieder weit entfernt, in Amerika oder Abu Dhabi. Es dauerte bis Mitte der achtziger Jahre, ehe Christo nach Europa zurückkehrte, nach Frankreich, die Heimat seiner Frau und Partnerin Jean-Claude. 1985 verpackte Christo die älteste Pariser Brücke über die Seine, den „Pont Neuf“ (erst später teilte Christo die Autorenschaft seiner Projekte auch namentlich mit seiner Frau).

Aus dieser größeren Nähe bekam ich die ungeheuren Anstrengungen mit, die Zähigkeit, mit der die beiden ihre Ziele verfolgten, die vor ihrer Verwirklichung samt und sonders unerreichbar schienen. Zehn Jahre lang waren die Behörden zu beknien gewesen, um das symbolträchtige Bauwerk der Renaissance aus dem späten 16.Jahrhundert verpacken zu dürfen: hier der Bürgermeister von Paris (Chirac), dort der französische Staatspräsident (Mitterand), zwei erbitterte Rivalen um die Macht in Frankreich. Natürlich mussten auch die Anwohner gewonnen werden, die Medien. Ich bin unschlüssig, was mehr zu bewundern ist: die Hartnäckigkeit über Jahre in den Amtsstuben oder das Wunderwerk am Ende, vor dem sich dann alle Welt die Augen reibt, als noch etwas nie Gesehenes. Und das alles, ohne dass die beiden je eine Organisation im Rücken hatten oder einen Financier.

Als der zähe Weg endlich ausgeschritten war, ging die Arbeit selbst zügig voran. Die Verhüllung der Brückenbögen dauerte nicht länger als einen Monat. Denn jeder kleinste Schritt war minutiös vorbereitet, als sich ein großer Stab von Ingenieuren, Mathematikern, Statikern, Technikern, Froschmännern in der Seine und ein Heer von Hilfskräften Hand anlegten. Diese vier Wochen Arbeit vor Ort wurden ihrerseits, zumal mit der gewachsenen Attraktivität von Christo und Jean-Claude, selbst ein weltweit wahrgenommenes Spektakel.

Dann war das Werk geschaffen und stand vor den Augen der Pariser, der ganzen Welt, weit über die eher engen Kreise hinaus, die sich normalerweise für zeitgenössische Kunst interessieren. Wie aus Karamell gegossen, in der Champagner-Farbe des Pariser Steins, spannte sich die Brücke über den Fluss und konnte bewundert werden – und begangen. Für vierzehn Tage. Keine Stunde länger.

Die kurz bemessene Frist gehört zur Inszenierung des Wunders dazu. Das Erleben ist auch eine Feier des Augenblicks. Jeder Augenblick ist kostbar und will so genossen sein. Die Gewöhnung des Auges, und damit ein Übersehen, wird damit verhindert. Die Trauer, dass das Wunder endlich ist und schon nach zwei kurzen Wochen wieder verlischt, für immer und ewig, verleiht der Gegenwart eine geradezu magische Kraft. Länger als zwei Wochen hält ein Mensch diese Intensität der Wahrnehmung wohl auch nicht aus. Was bleibt, sind Bilder – Abbilder, ein schwacher Abglanz.

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„Und wozu ist das ganze eigentlich gut?“ Diese Frage habe ich, weitere zehn Jahre später, oft in Berlin gehört, im Angesicht der silbrig glänzenden gigantischen Kommode, in die Christo und Jean-Claude den Alten Reichstag versteckten. Eine schöne Antwort darauf ist in Paris einem der Bergsteiger aus den französischen Alpen eingefallen, als sie die Kunststoffplanen über dem Pont Neuf festzurrten. Das könne er auch nicht sagen. So wenig, wie er wisse, warum er die Berge besteige und dabei sein Leben aufs Spiel setze.

Der Mensch ist ein König, wenn er spielt. Und nur dann.

Warum eigentlich schreiben die Menschen Gedichte?

Michael Zeller

Christo und Jean-Claude: Der verpackte Pont Neuf. Paris, September/Oktober 1985.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt: wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung BruderTod erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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