Geschrieben am 29. Januar 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Neu auf CulturMag: John & Maus – Kurzhörspiele

John und Maus– Wir freuen uns sehr über diese Neuerung: Ab sofort präsentieren wir Ihnen auf CulturMag jede Woche eine Folge des Kurzhörspiels „John & Maus“.
Brigitte Helbling erklärt, was es mit John und der Maus auf sich hat.

Chill-Out mit Maus

„John war besorgt“, so fängt die Geschichte an. „Wie jeden Tag hatte er die Dinge aufgezählt, die er mochte. Dann die Dinge, die er nicht mochte. Es war eine Übung – begonnen in der Hoffnung, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen – damit er wusste, woran er war.“

Burn-Out? Depressionen? Es sind die Sorgenwelten von Erwachsenen, die diesen „John“ herumzutreiben scheinen, aber dann stellt sich heraus: Der Junge ist erst elf. Er steht im elterlichen Garten, mit den Füßen in ein Erdloch eingegraben, und wartet darauf, dass die Bäume ihm das Wachsen beibringen. Wegen seiner Körpergröße wird er in der Schule ausgelacht. „Das war schlimm“. Und dabei ist doch Sommer, man hört es dem Insektensummen an, den Vogelstimmen, die allmählich in heitere Cembalobeats übergehen, der Gegenzauber für die unruhigen Ängste, die sich als Kirmes-Karussell in Johns Kopf drehen…

Und da kommt auch schon die Maus.

Gerade mal 600 Worte, knappe zwei A-4-Seiten, umfasst die erste Folge von „John & Maus“, eine fortlaufende Serie von Kleinst-Hörstücken, die seit April 2013 über Facebook, Youtube und Soundcloud veröffentlicht werden. Die Hörminiaturen sind zwischen drei und sechs Minuten lang und werden in Zyklen von 20 Folgen (vor kurzem wurde der zweite fertiggestellt) veröffentlicht. Neben den Zyklen gibt es Outtakes, die „Lost Maus Tapes“, von denen bisher zehn Stück herausgekommen sind. Beide Formate kreisen, als Hauptmotiv und seinen Variationen, um die Geschichte eines Jungen, der aus seinem Alltag aussteigt, und den Unterhaltungen mit einer Maus, die ihm dabei Gesellschaft leistet. John, der sich zur Immobilität entschlossen hat, verfügt von seiner neuen Warte aus über einen Wahrnehmungsradius von gerade mal ein paar horizontalen Quadratmetern (vertikal zieht der Blick natürlich endlos in den Himmel). Innerhalb dieses Handlungsraums sind die Vorgänge zu finden, die die einzelnen Folgen bestimmen.

John und Maus_night

Sudden Death I-III

Amseln, die sich um Früchte streiten, zum Beispiel, dabei liegen auf der Erde noch so viele. Eine Katze, die sich mit einem Eichhörnchen ein Showdown liefert, ohne Hoffnung, die flinke Beute je zu erwischen. Adlereltern, die ihren Jungen das Fliegen beibringen und sie davonjagen werden, sobald sie groß genug sind, ihnen die Futterquellen streitig zu machen. Schon die Episoden-Titel zeigen den Willen, im Kleinen das Große zu suchen, im Banalen das Erhabene. „Das Werk der Schöpfung“, „Liebling der Götter“. „Bird Strike“. „Sudden Death“ (I-III). Meist bleibt John Beobachter, und die Maus ist dann diejenige, die im Gesehenen unerwartete Bedeutungen oder Assoziationen findet. Ein heranrollendes Gewitter bewegt sie zu einem kleinen Vortrag über die Unfähigkeit der Menschen, die Götter zu verstehen. Aus einem Wassertropfen holt sie das Gedächtnis des Universums. Johns Ängste und Sorge scheinen die kleine Philosophin wenig zu interessieren, und seine Baum-Wünsche findet sie albern, auch wenn sie zu höflich ist, ihm das ins Gesicht zu sagen. Immerhin aber bietet sie ihm eine Ansprache, und das ist unübersehbar mehr, als seine Eltern können oder wollen.

„Die Maus ist weise, bleibt aber locker“, sagt der Autor von „John & Maus“, Michael Esser. „Sie ist cool. Sie ist keine Klugscheißer-Maus. Ich hätte mir eine solche Maus gewünscht, als ich ein Kind war. Ich hätte mir gewünscht, dass mein Vater etwas gehabt hätte von dieser Maus.“

Junge Menschen suchen sich Mentoren, Ältere müssen sie sich erfinden. Michael Esser studierte in den 1980ern an der Kunsthochschule in Hamburg Malerei und Film, bis er feststellte, dass ihm das Geschichtenerzählen weit mehr lag als die anti-narrativen Videoprojekte, die damals angesagt waren. Also wechselte er zum Hörspiel, wo er als Autor, Dramaturg und Regisseur arbeitete, entwickelte Hörformate für Volkswagen oder das EU-Parlament, war eine Weile lang als Projektleiter für die Ausarbeitung einer virtuellen Welt im Einsatz, die ein kalifornischer Millionär in Auftrag gegeben hatte. Kundenorientierte Formate ernähren ihn, aber bei „John & Maus“ geht es um etwas anderes. Da hieß das Experiment: Raus mit allem, was im auditiven Erzählen angeblich notwendig sei, damit der Zuhörer „mitkomme“. Reduced to the Max! Was übrigbleibt, könnte dann als die Essenz des Erzählenswerten – und damit des Eigenen und Eigentlichen – beschrieben werden: im Fall von „John und Maus“ das Abseitige, Bestürzende und schichtweg Wundersame dessen, was vor unserer Nase liegt.

Neben Michael Esser definieren zwei weitere Instanzen die Hörwelt von „John & Maus“. Die eine ist die Stimme dieser Unternehmung – oder Stimmen, denn es sind mindestens drei, ein Erzähler, John, und die Maus. Andreas Fröhlich gehört u.a. dank seiner Rolle als Bob Andrews in den „Drei ???“-Hörserien zu den bekanntesten Stimmen im deutschsprachigen Raum; einer derjenigen Hörspieler, die von ihren Fans regelmäßig gesagt bekommen, er könnte ihnen auch „das Telefonbuch vorlesen“. In Essers Hörbuch-Werkstätten ist er seit Jahren als Erzähler tätig, und umgekehrt schrieb Esser „John & Maus“ von Beginn weg mit Fröhlichs Stimme im Ohr. Dem Ergebnis ist das anzumerken: Die kleinen Sprachbilder fügen sich wie angegossen in das Temperament einer Stimmlage, die begütigend wirkt, selbst wenn sie von Natur-gegebenen Massakern berichtet.

Die andere Instanz ist dann die Musik, Ben Essers digital produzierte Beats und Tracks als schwebende Klangbilder, die die skizzenhaften Szenarien mit Farbe und Formen füllen. Michael Essers Sohn ist der Komponist und musikalische Produzent der „John & Maus“-Miniaturen, und mit seinen 23 Jahren der Junior in diesem Trio. Seit der Schulzeit ist er in einer weltweit vernetzten Musikgemeinde unterwegs, deren Helden Skrillex oder Avicii heißen, der eine Kalifornier, der andere Schwede, beide noch in den Zwanzigern, beide weltweite Superstars. Hier läuft die Kommunikation über Tracks und Remixes, die geltende Währung ist der digitale Austausch von Soundtüfteleien, die sich irgendwann – wenngleich nicht sofort, und auch nicht innerhalb dieser Community – zu Geld machen lassen könnten. (Ben Esser war es auch, der seinem Vater gleich zu Beginn sagte: „Wir müssen die Sachen – über Facebook, Youtube, Soundcloud – verschenken.“)

John und Maus_tree

Audio-Comic-Strips

So sieht eine typische Folge aus. Den Auftakt geben atmosphärische Geräuschkulissen (die frühen Folgen) oder Beats (zunehmend bei den späteren), die in einen Track übergehen, dem sich ein erster, kurzer Textteil anschließt. „John & Maus“’ Eingangssätze sind, nebenbei, ein Genuss für sich: „Die Nacht kalt, der Mond halb, die Sterne vollzählig.“ Oder: „ Wolken zogen müßig vor dem Blau des Himmels dahin wie Hirne auf Reisen.“ Nach solcher Sprach-Einführung schwillt der Sound noch einmal an und nimmt sich dann für die Unterhaltungen und Beobachtungen im Hauptteil zurück, illustriert, akzentuiert, und fordert sein Terrain erst nach den letzten Sätzen zurück, mit Tracks, die bis zu einer Minute lang weiterspielen, als Klangmodulation und Nachhall-Raum zum Thema, das die jeweilige Folge bestimmt.

Ein Chill-Out-Raum für Websurfer? In seiner gleichbleibenden Struktur erinnert „John & Maus“ an Zeitungs-Comic-Strips, die mit ihrer klaren Strukturierung im Unruhe-Herd der gedruckten Tagesaktualitäten einen vergleichbaren Ruhepol bilden. Comicnah sind auch die Bilder, mit denen sich „John & Maus“ im Netz präsentiert. Ben Esser entdeckte die Indonesierin Nikken Anindita auf deviantART, einer Plattform für Grafik-Künstler, und von Beginn weg sind es ihre Impressionen zu John und seiner Maus-Freundin, die die Serie visuell prägen. Mehr als diese Bilder gibt es zu den „Audio-Comic-Strips“ nicht – und mehr braucht es auch nicht, um in ihre Ruhezone eintreten zu wollen, so warm und grundsätzlich heiter wie der virtuelle Wohlfühlraum von Omas Küche.

Seit April 2013 erschien „John & Maus“ im Zwei-Wochen-Rhythmus im Internet. Inzwischen haben sich bei Ben Esser eine Reihe von Musikern gemeldet, die bei dem Projekt mittun möchten, Michael Esser weiß von Philosophie-Lehrern, die die Zyklen in ihrem Unterricht verwenden, und Andreas Fröhlich fragte bereits an, ob eine „John & Maus“-Livepräsentation als „Vorgruppe“ für die äußerst beliebten „Drei ???“- Live-Tour denkbar wäre. Es gibt eine eingefleischte Hörerschaft, die gegen Mitternacht, wenn die neuste Folge online ist, mit ihren Kommentaren und „Mag Ichs“ signalisiert, dass sie das Posting zur Kenntnis genommen hat. Es gibt die anderen, die sich die Folgen unregelmäßig oder im Pulk anhören, oder sie wie ein Feierabendbier oder eine Pralinenschachtel für die kleine Auszeit im digitalen Wandschrank aufbewahren. Empfohlen, sagt Michael Esser, wird die Serie zwar gerne, aber nicht an jedermann; allein schon die Dominanz der Sprache macht es schwierig, dass die Hör-Miniaturen sich viral ausbreiten. Und dann gebe es nicht wenige Hörer, die diese Schmuckstückchen auf Anfrage hin lieber für sich behalten möchten. Verständlich! – ein Chill-Out-Raum, der von den Massen gestürmt wird, ist keiner mehr.

Brigitte Helbling

Nachdem der erste Zyklus John im fast vollständigen Stillstand zeigte, bringt ihn der zweite nun doch in Bewegung; die Maus verschwindet, ein Hund taucht auf, und irgendwann glaubt nicht einmal John mehr an seine Baumwerdung (selbst wenn sich seine Zehen, nach Art von Wurzeln, inzwischen tief in die Erde eingegraben haben). Mit diesem Schritt Richtung Abenteuer wollen wir bei CulturMag einsetzen und freuen uns, ab Ende Januar für unsere Leser jede Woche eine Folge aus dem zweiten Zyklus von „John & Maus“ auf unserer Seite zu präsentieren. Los geht es diesmal mit 01. Erwachen:

Wer den ersten (und für ungeduldige, die Outtakes und den zweiten) Zyklus hören will, kann dies über Mausmusik.com tun; dort steht alles Bisherige zum freien Download oder auch als erwerbbare CD bereit.

Alle weiteren Neuigkeiten zu John & Maus finden sich HIER bei Facebook.

JOHN & MAUS sind:

Michael Esser: Geboren 1955 in Mönchengladbach
Andreas Fröhlich: Geboren 1965 in Berlin
Ben Esser: Geboren 1990 in Hamburg

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