Blickrausch
Hartwig Mauritz
großmutters erzählung: früher
Vorgestellt von Christoph Wenzel
großmutters erzählung: früher
glitt die nacht in einen schlaf. es hockte die familie
vor dem kamin schnitt der fernseher ein gesicht
in der dunkelkammer brach vom kathodenstrahl
ein streifen licht, hielt die nacht kurz, legte
trommelfeuer in traum und schläfe, ein fernrohr
gebaut gegen die krümmung der erde betraten wir
als erste den mond. geländegänge. wir traten
die wurzeln weich und tasteten uns in den abend
beim aktenzeichen gingen wir auf mörderjagd
im wohnzimmer verlor sich die nacht hinter gardinen
jalousien, markisen dachten wir einen kopf voraus
die sehrinde schluckte das fremde licht. stimmen
berührten einander. wir sahen das schwere grau
in die nacht absinken. großmutter starrte aus dem fenster
unter dem lid das erlebte bild. der krieg, der nie gezeigte
film im kopf des vaters zog uns weit vor das glas
wir schauten uns aus allem heraus und richteten
die antennen an unseren ängsten aus. der blickrausch
verflogen, strahlten wir bald in den nachthimmel und blieben
eine weile am bildschirm rollten die augen die zeilen entlang
entstand unser film hinter dem schnitt begaben wir uns
an den rand des schlafs in die kopfwerdung der bilder
biotope heißt der zweite Band von Hartwig Mauritz, der 2008 in der Lyrikedition 2000 erschienen ist. Die Biotope, die Lebensräume, in denen Hartwig Mauritz seine Gedichte ansiedelt, sind jedoch nicht nur Ökosysteme, die Landschaftsräume seiner schleswig-holsteinischen Heimat oder die grenznahen Gegenden seines bei Aachen gelegenen, niederländischen Wohnortes Vaals etwa, sondern gleichsam auch Erinnerungsräume und die (Unter)Bewußtseinsfragmente einer Kindheit, die dem (erwachsenen) Ich dieser Gedichte zu seinen Biotopen, seinen bio-topoi werden.
Hier also ein Fernsehabend im Kreise der Familie, das 1967 eingeführte Farbfernsehen hatte bis zum TV-Ereignis Mondlandung den Weg nur bis in wenige deutsche Haushalte gefunden. Es wird also noch schwarzweiß geschaut, oder vielmehr in Grautönen. Das Wohnzimmer wird zur Dunkelkammer, in die einzig der Kathodenstrahl der Fernsehröhre einen Streifen Licht bricht, ein fremdes Licht, das die Nacht zunächst hinter Gardinen, Jalousien, Markisen verbannt. Vor dem Gerät hocken die Kinder, die Aktenzeichen XY, die Mondlandung und Nachrichten verfolgen. Doch natürlich ist das Gedicht weit mehr als eine bloß nostalgische Evokation der in den 60er Jahren noch übersichtlichen Fernsehlandschaft der Republik.
Wenn die Nacht in den Schlaf gleitet, die Kinder im Bett sind, setzen sich die gesehenen Bilder fort, die Nacht wird kurz gehalten, denn das Trommelfeuer der Elektronen aus der Kathodenkanone hält an und legt sich in Traum und Schläfe. Im Schlaf gehen die Kinder, das Wir dieses Gedichts, selbst als Fahnder auf Mörderjagd, werden zu den ersten Mondfahrern, Geländegängern, die sich in den Abend tasten. Wie die Elektronen in der Röhre feuern die Neuronen im Tiefenhirn, angeregt durch das zuvor von der Sehrinde geschluckte Licht der Mattscheibe: eine Fortsetzung, Fortschreibung der Bilder im Traum. Doch auch darin ist sich das Gedicht nicht genug und greift viel weiter aus, als nur kindlicher Psycho- und Traumdynamik nach Fernsehkonsum nachzuspüren.
Die Großmutter, die uns schon im Titel begegnet, kommt ins Spiel, starrt aus dem Fenster und ist so mit einem Male selbst ins Bild gesetzt. Nicht das gesendete, sondern das erlebte Bild trägt sie unter ihrem Lid. Das erlebte Bild, der nie gezeigte Film im Kopf des Vaters, das ist der Krieg, der einen plötzlich weit vor das Glas der Mattscheibe und der Fenster zieht und angesichts dessen der Blickrausch zunächst verfliegen muss. Die Antennen, Empfangs- und Sendeinstrumente zugleich, werden ausgerichtet. Woran? An unseren Ängsten, sie bilden die Resonanzfrequenz, auf die Psyche und Körper gleichermaßen ansprechen, und hier treffen die erlebten Bilder, die Fernsehbilder und die nie gezeigten Filme aufeinander. Sie strahlen aus in den Nachthimmel, greifen Raum und erweitern die Erfahrungen des Individuums in ein, wenn man so will, Allgemeingültiges. – An dieser Stelle durchdringt der Blick den Bildschirm und bleibt in all seiner Leere noch haften an den Bildzeilen und damit auch an den Zeilen des Gedichtes. Hinter dem Schnitt, hinter der telemedialen Fiktion, beginnt am Rande des Schlafs, im Grenzbereich, die Kopfwerdung der Bilder. Das Ungesehene, Unsichtbare, das Unge– und Unerhörte wird hier, und vielleicht nur hier, ganz konkret und real.
Wie sich die Bilder und die semantischen Verbindungen in diesem Gedicht ineinander verschränken, ja, eins aus dem anderen erwächst, so setzen auch die TV-Bilder hinter den Lidern, in den Köpfen des Wir, die Bewegung einer Spirale in Gang, in der fortlaufend neue Bilder aus den gesehenen produziert werden, in der sich Psyche, Geschichte und Geschichten, Biographie, Traum und Trauma überlagern. Im Verschwimmen der Grenzen entsteht etwas Neues, das Mediale wird zum Trigger für einen eigenen Film.
Mauritz beherrscht die Kunst des verschränkenden Enjambements, mit dem er die Bilder in Fluss bringt, die doch nie unscharf werden, vielmehr von höchster sinnlicher Konkretion sind. Seine sprachlichen Fügungen sind kühl und kühn zugleich, der Ton ist sachlich, technisch bisweilen, und dringt doch tief ein durch die Sehrinde in Traum und Schläfe des Lesers und mündet schließlich: in die Kopfwerdung der Bilder.
Christoph Wenzel
Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (4) Nora Bossong
Zu Neuer Wort Schatz II (2): Udo grashoff
Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier
Das Gedicht ist erschienen in:
Hartwig Mauritz
biotope
Lyrikedition 2000 / 2008