lausig
Nora Bossong
Rattenfänger
Vorgestellt von Carsten Schwedes
Rattenfänger
Zwei Jungen traf ich
unterm Brückenbogen nachts,
die pinkelten den Pfosten an und
sagten, dass sie sieben seien,
sagten, dass sie Läuse hätten.
Sie lachten über mich, als ich
es glauben wollte. Nichts zu holen
außer Läuse, verriet der Kleinere.
Er zeigte aufs Gebüsch und trat
mir auf den Spann. Ich hätt mich gern
in ihn verliebt, so billig war
in jener Nacht sonst nichts mehr
zu erleben. Der Große fragte, ob es stimmt,
dass auch das Tier allein
nicht sterben kann. Es war
zu spät für Jungen unter dieser Brücke.
Am nächtlichen Flussufer, im Dunkel unter der Brücke treffen sie aufeinander, die einander gänzlich Unbekannten: zwei angeblich siebenjährige Jungen und der- oder diejenige, aus dessen/deren Perspektive diese eigentümliche Begegnung geschildert wird. Was passiert hier eigentlich? Zwei Kerle gehen pinkeln, treffen dabei auf eine dritte Person, einige kurze Sätze, dazwischen Gelächter, ein Fingerzeig, ein Tritt und wiederum eine abschließende Frage. Schlaglichtartig wird die Szene erhellt, das Umfeld bleibt im Dunkel. Wir haben nur die Beschreibung dieser Aktionen und Gedanken, über den Kontext erfahren wir nichts.
Wer ist hier der im Titel genannte Rattenfänger? Spielt Nora Bossong hier auf die Sage des Rattenfängers von Hameln an, so wie sie bisweilen auf Märchenmotive zurückgreift? Oder ist der Titel wörtlich zu nehmen, als Beschreibung des Zeitvertreibs der beiden Nachtstreicher? Und wer verbirgt sich hinter dem „ich“? In der Lyrik als subjektivster Literaturgattung liegt die Identifikation mit der Autorin nahe, allerdings fehlen sämtliche Indizien, die eine solche Angleichung rechtfertigen würden. Oder verbirgt sich hinter dem „ich“ ein Päderast auf der Suche nach möglichen Opfern, wie man folgern könnte, läse man den Titel als Anspielung auf den Rattenfänger von Hameln? Dafür liegt allerdings die Initiative zu eindeutig bei den beiden Pfostenpinklern und wehrlos wirken sie auch nicht gerade. Wie Strichjungen verhalten sie sich ebenfalls nicht, denn wer würde seine Kunden schon durch die Aussicht auf Läuse und Tritte zu gewinnen suchen?
In dieser nächtlichen Begegnung sind wir jedoch eindeutig Partei: alles wird uns aus der Perspektive der Erzählerin oder des Erzählers mitgeteilt. ErzählerIn? Ja, es ist eine Art Ballade, die uns vorgetragen wird, eine Ballade in der ersten Person. Und so hören wir einen einseitigen Dialog, in dem nur die Jungen reden, der oder die ErzählerIn uns seine/ihre Äußerungen vorenthält, aber Einblicke in seine/ihre Gedanken gewährt. So haben wir einerseits Zugang zu ihrem/seinem Persönlichsten, wobei sie/er uns andererseits so fremd bleibt, dass wir noch nicht einmal Geschlecht oder Alter bestimmen können.
In dieser Unbestimmtheit, die durch den unbekannten Kontext der Handlung und die Unmöglichkeit, den Wahrheitsgehalt der Aussagen oder Gedanken abzuschätzen, hervorgerufen wird, besteht der Reiz dieses Gedichts: wie bei einer Schachpartie sind nur wenige Züge zu sehen, die gedanklich durchspielbaren Varianten sind jedoch um ein Vielfaches größer. Die eigentliche Partie findet in der Vorstellung des Lesers statt, der aus den kargen Handlungszügen mögliche Kontexte konstruieren kann. Deutbar ist ein solches Gedicht höchstens als Bild zunehmender Unsicherheit über Kontexte im Aufeinandertreffen einander Unbekannter, als Szenario der Entfremdung.
Darin ist Nora Bossongs Gedicht vielleicht an ehesten einigen kurzen Prosastücken von Helga M. Novak vergleichbar, in denen sich, allerdings bei kameraartiger Beschränkung auf das Sicht- und Hörbare, eine ähnliche Schilderung der Entfremdung oder gescheiterter Kommunikation findet. Kunstlos erscheinend, auf Wortspiele verzichtend und auffällige Stilfiguren meidend, nähert sich Nora Bossongs Sprache in der Tat der Prosa an. Darin wird, wie auch in der Parallelführung der Verse vier und fünf und in den Zeilenumbrüchen, der Schatten Brechts erkennbar, der bezeichnenderweise der Form des Erzählgedichts zur Darstellung der Fremdheit im Dickicht der Städte ebenfalls einiges abgewinnen konnte.
In seiner Form manifestiert sich der Kern des Gedichts: menschliche Begegnung lässt sich in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht mehr besingen. Mag auf der einen Seite das Verlangen nach Zweisamkeit stehen („ich hätt mich gern / in ihn verliebt“; schon die Tilgung der Endungen läuft hier jeglichem Lyrizismus entgegen), so folgen unmittelbar darauf pekuniäre Berechnungen („so billig war / in jener Nacht sonst nichts mehr / zu erleben“). Auf der Gegenseite steht eine Ironie, die sich gegenüber der oder dem Anderen keine Blöße gibt, ihre/seine Gutgläubigkeit untergräbt („sie / lachten über mich als ich / es glauben wollte“) und sie/ihn im Zweifel darüber lässt, welche Aussagen für wahr zu nehmen sind (schwindeln die Jungen auch bei ihrem Alter?).
Letztlich ist es das Dunkeln der Ungewissheit, das dieses Gedicht dominiert, flankiert von der Düsternis der Stimmung und der Verbindung von Eros und Thanatos. Es herrscht Nacht, viel zu erleben gibt es nicht mehr, es sei denn, man verfügt über das nötige Kleingeld. In der Frage nach der Unmöglichkeit eines einsamen Todes für Tiere, gefolgt vom Fazit, dass es zu spät sei für Jungen (es heißt nicht: „zu spät für die Jungen“), gipfelt diese Situation der Todesverfallenheit. Die Zeichen stehen auf Untergang, ein Miteinander-in-Kontakt-kommen ist unmöglich in der Welt, die Nora Bossongs Gedicht schildert. Selbst die Aussicht auf den Trost eines anderen in den letzten Lebensmomenten bleibt den Menschen unter diesen Umständen verwehrt.
Carsten Schwedes
Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (5): Elke Erb
Zu Neuer Wort Schatz II (3): Hartwig Mauritz
Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier

Nora Bossong
Reglose Jagd
Zu Klampen 2007
47 Seiten. 17,00 Euro
Nora Bossong im Poetenladen
Foto: © Laura J Gerlach