Geschichte im Stillstand
In einer fünfzigteiligen CD-Edition von hundert Hör-Features stellt der renommierte Filmkritiker Peter W. Jansen ausgewählte Meisterwerke der Filmgeschichte vor. Neue Perspektiven und Ansätze sind dort jedoch nicht zu finden. Von Jörg Auberg
Seit Jahren präsentiert das Berliner Kino „Arsenal“ eine unablässige Reise durch die Filmgeschichte unter dem Titel „Magical History Tour in 365 Filmen“, die zwar einen Kanon der „besten“ oder wichtigsten Werke der Filmgeschichte darstellen soll, aber in jedem Durchlauf einer Veränderung unterliegt. „Die Geschichte des Films muss fortlaufend neu geschrieben werden“, konstatieren die Freunde der deutschen Kinemathek. „Es gibt neue Bewertungen, neue Erkenntnisse und Perspektiven. Neue Epochen und Trends treten ins Blickfeld, die Geschichte setzt sich fort und formiert sich neu.“
Anders verhält es sich mit dem Projekt „Jansens Kino“ des Berliner Verlages Bertz + Fischer, der seit Frühjahr 2003 in einer Edition von fünfzig Audio-Büchern jeweils zwei, in den 1990er Jahren vom SWR produzierten Hör-Features des renommierten Filmkritikers Peter W. Jansen zu ausgewählten Film-Klassikern aus der Zeit von 1915 bis 1993 vorlegt. Dabei ist die Editionspolitik jedoch etwas fragwürdig: Jeder Kanon-Regisseur ist ausschließlich mit einem Film vertreten, und die Auswahl der Regisseure wie der Werke ist nicht immer nachvollziehbar. Theodor Kotulla und Roland Kick sind vertreten, während man Filme von Dziga Vertov oder Alain Tanner vergebens sucht. Ohnehin wird das politische und dokumentarische Kino in diesem Geschichtsprojekt lediglich marginal repräsentiert.
Das Bild fehlt
Im Vordergrund der „Hör-Essays“ (wie der Verlag die knapp halbstündigen Features nennt) steht eine stark auf die Autorentheorie ausgerichtete Präsentation des jeweiligen Films, in der Plot, Dialogszenen, Hintergründe und Bedingungen der Entstehung, Kameraarbeit, Leistungen der Schauspieler, Montage und Musik wie auch die qualitativen Unterschiede von Original- und Synchronfassung kenntnisreich und detailliert analysiert werden. Neben Jansen mit seiner markanten, zurückhaltend eingesetzten Stimme agieren zwei weitere Sprecher, die Erinnerungen und Einschätzungen des Autor-Regisseurs Ausdruck verleihen und die Perspektive des Kritikers erweitern. Die Zusammenstellung von Filmen wie Akira Kurosawas „Rashomon“ und Joseph Mankiewicz „Alles über Eva“ scheint auf den ersten Blick willkürlich, doch arbeitet Jansen über die multiperspektivische Erzählweise in Rückblenden, aus der sich der Filmzuschauer seine Wahrheit (über ein Verbrechen sowie den Aufstieg und Fall eines Theaterstars) konstruieren muss, die verborgene Gemeinsamkeit heraus.
Die Konzentration auf die Tonspuren liefert einerseits eine genaue Analyse der Struktur; andererseits fehlt aber völlig die visuelle Argumentation, da die Bildsprache nur beschrieben, aber nicht erfahrbar wird. „Was der Ton nicht vermittelt“, heißt es in einem Kommentar zu „Rashomon“, „zeigt das Bild.“ Diese Dimension fehlt der ambitionierten Edition der Hör-Features notgedrungenerweise gänzlich. Die Reduktion ist im Ursprung des Projekts, in seiner Radio-Herkunft aus dem vergangenen Jahrtausend begründet. Heute gäbe es – dank der technologischen Entwicklung – andere Möglichkeiten der Präsentation einer Geschichte des Films, wie es beispielsweise das Internet-Portal Ubuweb, ein Multimedia-Projekt zur Geschichte der Avantgarde-Kunst, demonstriert. Neben dieser technischen Antiquiertheit haftet dem Kritik-Projekt auch eine museale Patina an, wenn Jansen etwa über Mankiewicz sagt, er sei ein „Frauenregisseur“ gewesen, „wie nach ihm nur noch Truffaut“ – als wäre die Zeit in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingefroren wie in der letzten Einstellung von Truffauts „Les quatre cents coups“.
Darüber hinaus lassen Aufmachung und Tonqualität der Edition zu wünschen übrig. Trotz allem ist dieses Projekt hörenswert, zumal es die Erinnerung an eine kompetente, engagierte Filmpublizistik in Deutschland wachhält, die heute aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den großen Verlagen weitgehend verschwunden ist.
Jörg Auberg
Peter W. Jansen: Jansens Kino. Folge 16: Rashomon / Alles über Eva. Bertz + Fischer. Audio-Book, 58:30 Minuten, 16,90 Euro.