Geschrieben am 6. März 2006 von für Litmag

Poesie ist unverzichtbar

Warum eigentlich kommt nur eine Filmregisseurin wie Lina Werthmüller auf diese Idee? Sie suchte für einen ihrer Filme einige junge Darstellerinnen. Gut zweihundert Mädchen meldeten sich, um so vielleicht einmal eine Karriere als Schauspielerin zu beginnen. Die Werthmüller ließ sie sich vorstellen. Die Mädchen mußten zwei, drei Sätze sagen, einige gestische Bewegungen vorführen. Vielen gelang es gut und die entsprechenden Mädchen glaubten dann schon, vor den strengen Augen der Wertmüller bestanden zu haben. Doch dann ließ die Regisseurin den jungen Möchtegern-Sophia-Lorens etwas machen, auf das keines der Mädchen vorbereitet war. Sie sollten ein Gedicht eigener Wahl auswendig vortragen.

Tatsächlich war eines der Mädchen in der Lage, einige auswendig gelernte Zeilen vorzutragen. Es sei, so das couragierte Mädchen auf die Nachfrage von Lina Wertmüller, kein Gedicht, sondern der schlichte, eingängige Text eines Hitparadensongs. Keines der zweihundert Mädchen konnte offensichtlich auch nur einen Vers eines Lyrikers auswendig vortragen.

Als dann Lina Wertmüller diese persönliche Erfahrung den sehr auf kulturelle Tradition bedachten Lesern der Mailänder Tageszeitung ‚Corriere della Sera‘ mitteilte, erhob sich sofort ein heftiger Sturm der Empörung. Unsere Schulen, unsere Lehrer, das Fernsehen natürlich nicht zu vergessen – alle wurden zu Schuldigen des bereits im Kindesalter einsetzenden Kulturverfalls genannt. Wie nicht anders zu erwarten blieb es aber bei einem Sturm im Wasserglas. Für die, die als erste Schuldige genannt wurden, die Lehrer in den Schulen, war dieses Problem zu peripher. Man sei ja schon froh, wenn die Schüler überhaupt noch Interesse an der Lyrik hätten. Da solle man nicht auch noch erwarten, dass Gedichte auswendig gelernt werden müßten.

Aus deutscher Sicht tröste man sich hier nicht mit dem Verweis auf den Zustand des italienischen Bildungssystems. Vermutlich dürfte der Stellenwert von Lyrik hier sogar noch geringer sein als in den immer noch relativ konservativ geführten italienischen Schulen. Und alleine die Vorstellung, das bei einem Bewerbungsgespräch sagen wir für eine Stelle im Bankgewerbe oder in einem großen Industriebetrieb tatsächlich auch nach den Lyrikkenntnissen eines Kandidaten gefragt würde, ist mehr als lächerlich. Für kulturkritische Klagen eröffnet sich hier also ein weites Feld. Die Frage aber muß anders gestellt werden, um nicht in ein auswegloses Lamento über den allgemeinen Werteverfall zu geraten. Warum eigentlich soll im Zeitalter der Globalisierung, von Cyberspace und Video-Games die Beschäftigung mit Lyrik, noch mehr, das Auswendiglernen von Gedichten noch sinnvoll sein?

Der eigene Zugang zur Lyrik, zum Trost, zur Ermutigung, zur Empörung durch das Gedicht sei hier nicht unerwähnt. In meiner Kindheit, die ich in einem sehr katholischen Winkel der nordwestdeutschen Provinz verbrachte, mußten wir als Messdiener das Stufengebet zu Beginn eines Gottesdienstes noch in der lateinischen Sprache sprechen. Wir verstanden kein Wort von dem, was wir da auswendig lernten, aber trotzdem leierten wir den Text mechanisch wie ein altes Uhrwerk immer an den Stufen des Altares herunter. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Selbstverständlich konnten wir auch andere Gebete und Kirchenlieder auswendig beten oder singen. Die hatten wir auswendig gelernt, die mußten wir lernen, um gute Christenmenschen zu sein.

Erst sehr viele Jahre später und in der Distanz zu den katholischen Glaubensritualen habe ich meine Liebe zu Gedichten und moderner Lyrik als ein mögliches Echo der Gebete meiner Kindheit zu interpretieren versucht. Hatte nicht auch Robert Walser einmal geschrieben, dass jedes Gedicht eine Art von Gebet sei? Und auch für den jeder klerikalen Nähe unverdächtige englische Schriftsteller John Berger sind „Gedichte Gebeten näher als Geschichten“. So gewinne ich über das Lesen von Gedichten und – den leider auch oft fehlschlagenden Versuch – meine mir besonders wertvollen Gedichte auswendig zu lernen, immer wieder einen Bezug zur Kindheit. Gedichte erinnern mich so an meine biographischen Wurzeln, geben mir einen gewissen Schutz vor der alltäglichen Überflutung mit Sprachmüll jeder Art, verstören mich, wenn ich mich mit den herrschenden Verhältnissen zu sehr arrangiert habe oder sie lassen mich, wenn ich dazu Lust verspüre, in die Ferne forttreiben, weg vom ewig gleichen Ort unter dem ewig gleichen Himmel: etwa mit Versen von Derek Walcott in die Karibik, mit Pablo Neruda an die chilenische Atlantiküste, mit Philippe Jaccottet in die Provence, mit Rosalìa de Castro im spanischen Galicien oder mit Amanda Aizpuriete an die Bucht von Riga. Vielleicht werde ich diese Orte niemals in meinem Leben sehen. In den Gedichten aber bin ich dort längst schon einmal gewesen. Sie sind mir vertraut durch die Sprache der Dichter. Bilder dieser Landschaften kann mir auch das Fernsehen, auch das Internet liefern. Aber nur durch die Malerei oder eben die Lektüre von Dichtung kann ich mich den besonderen Athmosphären von fremden Orten oder weit zurückliegenden Zeiten annähern.

Tief eingeprägt haben sich bei mir zwei lyrische Rezitationsabende. Auf dem jährlichen ‚Europäischen Lyrikertreffen in Münster war 1993 auch die russische Lyrikerin Bella Achmadulina angekündigt. Vor ihr rezitierten bereits andere Lyriker aus ihren Gedichten. So große Namen wie der Italiener Andrea Zanzotto oder der Pole Adam Zagajewski waren darunter. Sie lasen ihre Gedichte vom Blatt. Es herrschte jene bei Lyrikerlesungen so typische und ansonsten kaum noch anzutreffende Konzentration auf Wort, Intonation und Imagination. Alles gut und schön und beeindruckend. Doch dann kam die Achmadulina. Eine kleine, zierliche, eher unscheinbare Frau betrat die Bühne. Verneigte sich tief, konzentrierte sich kurz und begann dann mit der Rezitation ihrer Gedichte. Sagte ich Rezitation? Es war viel mehr: eine Theateraufführung, eine Performance, ein Feuerwerk der Sprache. Die langen, schwierig komponierten Gedichte mit ihren überquellenden Assoziationen, Symbolen und Bildern verstanden wohl nur die wenigsten Zuhörer im Saal in der Originalsprache. So war man angewiesen auf die schriftlich vorliegende Übersetzung und auf das Hören von Rhythmus und Sprachmelodie. Bella Achmadulina hatte kein einziges Blatt Papier mit auf die Bühne gebracht. Sie rezitierte alle ihre Gedichte nur auswendig. Wort für Wort, Vers für Vers, Strophe für Strophe ohne eine einzige längere Pause.

Eine ähnlich atemberaubende Dichterlesung habe ich dann noch einmal mit ihrem Landsmann Josef Brodsky im Münchener Prinzregententheater erlebt. Auch er rezitierte jedes seiner Lang-Gedichte ohne ein einziges Blatt Papier als Stütze. Auch Ossip Mandelstamm, Anna Achmatova oder die Zwetajewa sollen, so berichten es Zeitzeugen, ihre Gedichte immer nur auswendig, nie vom Blatt ablesend vorgetragen haben. Warum eigentlich hat das Memorieren von Gedichten in der russischen Tradition einen so hohen Stellenwert? Bücher kann man verbieten oder verbrennen, Papiere kann man beschlagnahmen, aber gegen Gedanken und auswendig gelernte Gedichte ist jeder Nachrichtendienst machtlos. Das ist nicht das schlechteste Argument, literarische Texte und Gedichte im Besonderen zu memorieren. Truffauts Film „Fahrenheit 451“ kann man in diesem Zusammenhang nicht genug empfehlen.

Nicht seine eigenen Gedichte, sondern die von Rainer Maria Rilke las der Münchener Schauspieler Edgar Selge jüngst in den Kammerspielen. Nein, er las die „Duineser Elegien“ nicht vom Blatt ab, sondern rezitierte diese ungemein schwierig formulierten zehn Langgedichte aus dem Kopf, unterbrochen nur von jeweils kurzen Konzentrationspausen. Eine gewaltige Memorierungsleistung, die jeder Zuschauer und Zuhörer nur mit größtem Staunen und natürlich auch neidvollem Respekt zur Kenntnis nahm. Da spürte man noch eine Dünung aus jener Zeit, als man noch Gedichte selbstverständlich auswendig lernte.

Überhaupt Rilke. In der Generation vor uns, sagen wir bei den heute Siebzig-, Achtzigjährigen und deren Eltern, gehörte das Auswendiglernen von Gedichten noch zum schulischen Pflichtprogramm Und wenn man einmal von den vaterländischen Heldengedichten auf den konservativen Gymnasien der Weimarer Zeit oder dann später von der nazistischen Blut- und Bodenlyrik absieht, gehörten Gedichte von Goethe, Hölderlin, Rilke gewiss immer zum Standardrepertoire memorierter Lyrik in Deutschland. Auswendig wie ein Edgar Selge konnten wohl nur die wenigsten Elegien und Oden der Klassiker vortragen. Aber manchmal reichte da ein einziges Wort, ein einziges kurz entflammendes Sentiment, um ein Rilke-Gedicht zu memorieren. Heute, wo das Auswendiglernen schon der kürzesten Gedichte an unseren zugenommenen Konzentrationsschwächen zerschellt, erinnern immerhin noch einzelne Verse auf Todesanzeigen daran, wie sehr wir uns in manchen Schwellenmomenten des Lebens an einen Trost klammern, den offensichtlich nur die Dichtung zu geben vermag: „Ist Tod ein Schlaf/ wie Hiersein bloß ein Traum?“ heißt es bei John Keats oder jener Klassiker von Rilke, der viele Todesanzeigen dekoriert: „Der Tod ist groß./ Wir sind die Seinen/ lachenden Munds./ Wenn wir uns mitten im Leben meinen./ wagt er zu weinen/ mitten in uns.“

Wir wissen aus Erinnerungen an Kriegseinsätzen deutscher Soldaten, dass erstaunlich viele von ihnen stets Gedichtbände bei sich trugen und ihre Liebslingsgedichte in verzweifelten Situationen auch auswendig kannten. Ohne seine auswendig gelernten Trakl-Gedichte, so erinnerte sich beispielsweise Franz Fühmann im „Sturz des Engels“ seiner großen Verteidigungsschrift der Poesie, hätte er die gottverdammte Zeit an der Front nie überlebt. Michael Hamburger, ein von den Nazis nach England vertriebener jüdischer Übersetzer und Lyriker, hatte als Soldat der britischen Armee im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht, immer Hölderlin-Gedichte im Kopf. Sie gaben ihm die Gewissheit, dass es auch ein ‚anderes Deutschland‘ gibt, das zu befreien Ziel seines Kriegseinsatzes auf Seiten der Allierten war. Und auch von Primo Levi wissen wir, was ihm die Gedichte von Dante oder Giacomo Leopardi im Konzentrtationslager Auschwitz bedeutet haben. „Die Lyrik war immer in uns wie Musik und Gesang. Es gibt keine Kultur ohne Lyrik“.

Und jenseits dieser dramatischen existenziellen Situationen, der Konfrontation mit Endlichkeit und Tod, kann die Poesie auch unser Sprachempfinden schärfen, fördern, erweitern. Auf die Frage, auf was ein Journalist bei seinem Schreiben nicht verzichten kann, antwortete einmal Ryszard Kapusinski, einer der zweifellos ganz Großen unter den zeitgenössischen Reportern: „Ich gebrauche Poesie als Sprachübung. Poesie ist für mich unverzichtbar. Sie erfordert äußerste sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute. Meine Prosa muß Musik enthalten und Poesie ist Rhythmus. Wenn ich zu schreiben anfange, muß ich mich in einen Rhythmus einfinden. Dann erst fliessen mir meine Worte.“

Auf die Frage seines Kindes, woran man erkennen könne, ob einem fremden Menschen zu trauen sei, antwortete der italienische Literaturkritiker und Schriftsteller Roberto Cotroneo: „Trau denen, die gerne lesen, hab Vertrauen zu denen, die immer einen Gedichtband mit sich herumtragen.“

Ob aber alle diese Plädoyers für die Poesie aus den Feder berühmter Dichter oder Journalisten ausreichen, um die jungen Schauspielerinnen der Lina Werthmüller oder die Aspiranten auf Stellen bei der ‚Deutschen Bank‘ dazu verführen können, Gedichte zu lesen und vielleicht auch auswendig zu lernen? Wohl kaum, aber kann man überhaupt mit wortstarken Plädoyers, vielleicht noch mit erhobenen Zeigefinger, im Ton empörter Kulturkritik für die Unverzichtbarkeit von Poesie werben? Dass man, wie Joseph Brodsky einmal gesagt hat, einen guten literarischen Geschmack nur entwickeln könne, wenn man Lyrik liest, überzeugt nur den, der ohnehin schon einen Zugang zur Literatur gefunden hat. Warum aber soll der, dem die ihn Tag für Tag umgebende Wirklichkeit genügt, der sich auch in den engen Grenzen seiner Sprachwelt heimisch fühlt, dem zum Ausdruck seiner Gefühle und Stimmungen der extrem reduzierte Wortschatz einer TV-Soap-Opera ausreicht, ausgerechnet Gedichte lesen und sie von Fall zu Fall auch noch memorieren? Dort wird wohl alle kulturkritische Aufklärung vergeblich sein. Wem das aber alles nicht reicht, wer der alles überragenden Bilderwelt der Medien trotzig einen wenigstens kleinen Damm mit immer präsenten, weil auswendig gelernten Versen entgegensetzen will, der bleibt der Faszination von Gedichten aus allen Zeiten und allen Räumen verfallen. Der weiß, dass es neben dem Nasdac-Index , den Chat-Rooms im Internet oder den globale Daten-Highways noch so etwas herrlich antiquiertes, vollkommen neben der Zeit liegendes wie Gedichte gibt. Der identifiziert sich statt mit einem Börsenspekulanten lieber mit der Bartholine in Jens Peter Jacobsens Roman „Niels Lyhne“: „Sie hatte gar keinen Sinn für die Ereignisse im Stall und auf den Feldern, keinen Sinn für die Meierei und Haushalt – nicht den geringsten! Sie liebte Gedichte“.

Carl Wilhelm Macke