„Was zählt, ist der Stil!“
Zwischen Aufruhr und Alltagspoesie – Djians Figuren altern mit dem Autor
Französische Autobahn: Paris – Nantes. Eine kleine Abfahrt kurz vor Le Mans. In der engen Kabine der Mautstelle verbringt ein junger Franzose seine Nächte. Er hat wenig zu tun, selten kommt ein Auto vorbei. Um so mehr Zeit hat er, auf seiner Schreibmaschine seinen ersten Roman runter zu tippen.
Der 1949 in Paris geborene Schriftsteller Philippe Djian ist kein Intellektueller. Nach zwei Semestern Literaturwissenschaft und dem kurzen Besuch einer Journalistenschule schlug er sich jobbend durch den Alltag. Ob als Hafenarbeiter, Buchhändler, Türsteher oder eben als Nachtkassierer im Zahlhäuschen auf der Autobahn. Genau dort begann er zu schreiben. Zuerst Chansontexte, später Erzählungen, dann einen Roman. Von seinem Erfolg bekam er einzig durch die Schecks seines Verlegers mit. „Den habe ich erst bei der Veröffentlichung meines dritten Romans kennengelernt“, erklärt Djian, „davor war ich nie in Paris. Dort wurde schon über mich gesprochen, während ich nichts ahnend in der Péage saß.“
Nach dem Erzählband „50 gegen Einen“ und den Romanen „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ gelang Djian der Durchbruch mit „Betty Blue, 37,2 Grad am Morgen“. Die erfolgreiche Verfilmung von Jean-Jacques Beineix lenkte das Interesse eines Massenpublikums auf den Urheber jener atemraubenden Liebesgeschichte eines kruden Gelegenheitsschriftstellers mit der besessen-temperamentvollen Betty. Schnell sprach sich herum, dass der Roman den Film um Längen übertrifft. „Ihn zeichnet aus, was den meisten preisgekrönten französischen Romanen fehlt: eine lebendige, gegenwartsbewusste Sprache, die das flirrige Lebensgefühl einer jüngeren Generation transportiert.“ Man begann Djians kauzige Helden zu lieben. Jene melancholischen Draufgänger, die sich vom Leben angezählt durch die Welt schlagen. Die trinken und lieben, Sex haben und Bücher schreiben. Die an der Grenze der Legalität, der Selbstaufgabe und der Leidenschaft ihr Glück in der Ausweglosigkeit des Alltags suchen und in Momenten größter Verzweiflung von der Magie des Banalen überwältigt werden.
Dabei musste Djian wie der Erzähler von „Betty Blue“ zur Veröffentlichung seiner Manuskripte von seiner Freundin erst einmal überredet werden. Aber auch als er endlich einsah, dass er ein Kultschriftsteller geworden war, blieb er ein Einzelgänger, der sich jahrelang konsequent von der Pariser Literaturszene fernhielt, weil er den Snobismus des Literaturklüngels nicht ertragen konnte. „Ich hatte Angst zu ersticken. Ich konnte kein französisches Buch lesen, ohne dass es mir vor Langeweile aus der Hand gefallen wäre.“ Seine Vorbilder kamen aus Amerika: Ernest Hemingway, William Faulkner, Jack Kerouac, Raymond Carver, Richard Brautigan, Bret Easton Ellis.
„Auf die Story eines Buches kommt es nicht an, Ideen hat jeder. Was zählt, ist der Stil!“, erklärt Philippe Djian in nahezu jedem Interview. Es hat viele Versuche gegeben, seinen Stil zu beschreiben. Er sei so rein wie kristallklares Wasser, so schnell, dass ältere Herren wie Grass und Walser längst einem Herzinfarkt erlegen wären, Sätze wie Blitzlichter voller Witz und Esprit…. Durch witzige und originelle Alltagsmetaphern, durch Anklänge an die gesprochene Sprache, durch einen flüssigen, abwechslungsreichen Satzbau, durch einen treibenden Rhythmus hat er einen Sound entwickelt, der sich durch präzise Einfachheit und elegante Schnelligkeit auszeichnet. Er schreibt druckfertig, korrigiert nie. Aber es könne durchaus vorkommen, dass er zwei Stunden an einem einzigen Satz herumfeile.
„Mein Stil ist mein Blickwinkel auf die Welt, mein Point-of-view, die Art, die Dinge zu offenbaren. Mein Ziel ist es, meinen Platz in der Welt, meine Stimme zu finden. Was mich und meine Figuren interessiert, ist der Austausch mit der Umwelt, das was aus der Außenwelt zurückkommt.“ Weshalb Sinneseindrücke und die Beziehung zwischen den Figuren der Motor seiner Romane sind. „Alle meine Protagonisten fragen sich, wer sie sind, und das ist eine Sache, die man nicht allein definieren kann. Man benötigt den Rest dazu, die geographische Welt, das Wetter, die anderen Menschen. Über meinen Stil, meine Erzählperspektive, meinen Blick für Details kann ich Beziehungen zur Außenwelt entwickeln und Antworten bekommen.“ Daher die sensible Wahrnehmung bizarrer Wetterstimmungen, das Aufzeichnen gewöhnlicher Gespräche in der Bar nebenan, das detaillierte Beschreiben des Fußnägelschneidens oder Eincremens der Freundin – die Poesie des Trivialen, kein Effekt, eine Frage der Weltsicht.
Kein Zweifel, Philippe Djian hat den Alltag in die Literatur geholt. Dabei konnten Legenden entstehen, etwa die, dass Djian und seine Helden Säufer sind. „Wenn meine Helden ein Bier trinken, sagen sie’s halt, aber dreimal am Tag ist nicht wirklich viel. Nur wird in der Literatur sonst selten Bier getrunken“, sagt Djian und schlürft an seinem sonntagvormittäglichen Campari-O. Ähnlich steht’s mit dem Kiffen. Nicht selten drehen sich seine Helden einen Joint. Djian auch: „Früher habe ich viele Joints geraucht. Ich habe ’ne Zeit lang aufgehört, aber seitdem ich ältere Kinder habe, bringen die schreckliche Dinge mit nach Hause!“
An die unzähligen jugendlichen Helden seiner Bücher denkend, verwundert es schon, heute einem gemütlich seine Zigarette rauchenden, seinen Drink in kleinen Schlucken trinkenden Familienvater mit Bierbauch gegenüber zu sitzen. Aber nicht nur der Autor, auch seine Protagonisten sind in die Jahre gekommen. Von Anfang an habe es sie gegeben, die Nähe zu seinen Ich-Erzählern, aber erst in der „Sainte-Bob“-Trilogie („Mörder“; „Kriminelle“; „Heißer Herbst“) könne sich Djian mehr oder weniger mit seinen Figuren identifizieren. Vor allem in „Heißer Herbst“, seinem zehnten Roman: „Luc Paradis, der Erzähler von ,Heißer Herbst‘, schreibt die Romane ,Mörder‘ und ,Kriminelle‘, die ich in Wirklichkeit bereits veröffentlicht habe. Ich wollte zeigen, dass er durch sein Schreiben in der Lage ist, mehrere Leben zu führen. Wenn er sich mies fühlt, schreibt er ,Kriminelle‘, wenn er sich besser fühlt, schreibt er ,Mörder‘. Personal und Geographie bleiben gleich, nur die sozialen Kontexte, die Beziehungen zwischen den Figuren, sind verschieden. Das ist die Grundlage meines eigenen Schreibens, der Grund, warum die Grenze zwischen Realität und Fiktion verwischt. Der Schriftsteller ist Herr und Meister seiner Kreaturen. Mit Hilfe seiner Romane kann er verschiedene Leben ausprobieren.“
Viele Kritiker wollen mit „Pas de deux“ („Lent dehors“, Frankreich 1991) den Wendepunkt in Djians Werk markieren. Der erste Djian’sche Held, der an Krankheiten leidet und nicht mehr on the road, sondern fest im bürgerlichen Leben verwurzelt ist. Außerdem geschieht dort, was bei Djian nie zuvor geschah. Der Held erinnert sich, blickt zurück in die Vergangenheit: Wie er und seine Frau mit zehn, 15, 18 waren. Eine Tendenz, die sich über „Matador“ zur „Sainte-Bob“-Trilogie“ fortsetzt. Djian selbst sieht die Differenzen eher im Stil: „Ich habe nicht das selbe Alter, nicht die selben Beziehungen wie früher, und damit verändert sich mein Stil. Die Schnelligkeit war damals ein Grundelement meiner Romane, heute ist es die Einfachheit. Wie ein Maler der seine Palette auf wenige Farben reduziert, um präziser und intensiver zu sein, will ich meinen Ausdruck verstärken.“
New York, Biarritz, Bordeaux, Florenz, Lausanne,… Djian hat nie lange an einem Ort gelebt – ein Nomadenleben, bis er vor drei Jahren in seine Geburtsstadt Paris zurückgekehrt ist und einen ironischen Roman über die Literaturszene begonnen hat, der im März in Deutschland erschienen ist: „Schwarze Tage, weiße Nächte“. Wird er jetzt etwa so sesshaft und bürgerlich wie seine Helden, wo er sich doch jahrelang konsequent von Hauptstadt und Kulturestablishment ferngehalten hat? „Kerouac war auch nicht immer auf Reisen“, seine Standardantwort.
Mit dem Alter hat sich also nichts Bahnbrechendes geändert. Autor und Figuren wiegen ein paar Kilo mehr, haben ein paar Probleme mehr, das Spiel der Möglichkeiten geht weiter. An eine Überwindung der Midlife-Crisis mit Hilfe der Literatur will Djian noch nicht denken: „Habe ich die etwa schon erlebt?“ Und brisante Konstellationen durchlebt er nach wie vor lieber in der Fiktion als in der Realität: „Ich bin seit 27 Jahren mit einer Frau zusammen. Das war für mich wie zehn oder 15 Beziehungen zu erleben. Ich halte es für besser, jedes Jahr mit derselben Person eine neue Beziehung anzufangen, als ständig mit einer neuen.“
Dass seine Helden das anders sehen, beweist Djian mit jedem seiner Romane aufs Neue. Ob es um euphorische Amour fou, das Begehren der Nachbarin, die Qualen enttäuschter Liebe oder eine Affäre mit der Schwiegermama geht, ob die Erzähler Sex-and-Crime-Machos, Musikdozenten oder Gelegenheitsarbeiter sind, das Abenteuer Alltag geht weiter. Und Frauen spielen darin – wie eh und je – eine wichtige Rolle.
Von Markus Kuhn
Deutsche Übersetzungen
(Sortiert in der Reihenfolge der Entstehung.)
50 contre 1
(Michael Mosblechs Übersetzung ins Deutsche ist fertig. Diogenes ist auch wegen Vervollständigung des Gesamtwerkes grundsätzlich zur Veröffentlichung bereit. Leider möchte Djian selber das Werk wohl am liebsten aus dem Verkehr ziehen.)
Blau wie die Hölle (1990)
Erogene Zone (1987)
Betty Blue – 37,2° am Morgen (1986)
Verraten und verkauft (1988)
Rückgrat (1991)
Krokodile (1993)
Pas de deux (1994)
Matador (1995)
Ich arbeitete für einen Mörder (1996)
Schlechter Rückprall (1997)
(Erschienen in „Tintenfass“, Diogenes Verlag)
Kriminelle (1998)
Im Labyrinth der Lust – Erotische Phantasien
(Anthologie 1998, Hrsg. v. Christine Proske)
Von Djian ist darin eine Geschichte mit dem Titel „Great balls of fire“ enthalten. Es handelt sich aber nur um einen Auszug aus „Pas de deux“.
Heißer Herbst (1999)
Schwarze Tage, weiße Nächte (März 2002)Website: http://www.djian.de/home.html