Geschrieben am 3. Oktober 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag, News

Primärtext zur Buchmesse: Der Roman Das Zigarettenmädchen (Auszug) der indonesischen Autorin Ratih Kumala

Ein verrauchtes indonesisches »Buddenbrooks«

Jeden Monat präsentiert das LitMag einen interessanten Primärtext. Im Oktober ist es ein Ausschnitt aus dem Roman »Das Zigarettenmädchen« der indonesischen Autorin Ratih Kumala. Indonesien ist das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2015.

Jeng Yah – diesen Namen flüstert der Zigarettenbaron Pak Raja immer wieder, als er im Sterben liegt. Er möchte sie noch einmal sehen, bevor er stirbt. Seine drei Söhne wollen dem letzten Wunsch ihres Vaters entsprechen. Was aber hat es mit dieser Frau auf sich, über die ihre Mutter vor Wut und Eifersucht nicht reden will? Die jungen Männer machen sich auf die Reise, die sie von Jakarta tief ins Herzen Javas führt – und in eine Vergangenheit, die von Schuld und Verrat, von Liebe und Freundschaft, von Neid und Eifersucht erzählt. Zwei Männer, die wegen einer schönen Frau zu bitteren Feinden werden, zwei Familien, deren Wege sich über drei Generationen immer wieder kreuzen, bis die Versöhnung unmöglich scheint …

»Das Zigarettenmädchen«, der fünfte Roman der indonesischen Autorin Ratih Kumala, ist eine Geschichte über zwei Gründer von Zigarettenfabriken und die Entwicklung der Tabakindustrie, die das Land bis heute nachhaltig prägt. Dabei webt sie die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe der jungen Republik ein, vom Ende der niederländischen Kolonialherrschaft und der Invasion der Japaner über die Massenmorde an den Kommunisten bis hin zum heutigen Indonesien.

Ratih Kumala wird in Frankfurt sein und aus ihrem Buch lesen:
Buchreleaseparty: Frankfurt, Restaurant Odyssee, 15. Oktober, 19:00 Uhr, Link
Frankfurt, Buchmesse, 14. Oktober, 17:30 Uhr, Leseinsel der unabhängigen Verlage
Frankfurt, Buchmesse, 15. Oktober, 16:00 Uhr, Orbanism Space, Halle 4.1, B73
Frankfurt, Buchmesse, 16. Oktober, 14:00 Uhr, Gramedia, Halle 5.0, D44
Frankfurt, Weltenleser Buchhandlung, 17. Oktober, 12:00 Uhr, Oeder Weg 40,
Solms, Taunushalle, 17. Oktober, 19:00 Uhr, Oberndorfer Str. 20
Frankfurt, Buchmesse, 18. Oktober, 12:30 Uhr, Orbanism Space, Halle 4.1, B73

kumala-zigarettenmädchen-Print350Ratih Kumala: Das Zigarettenmädchen

Jeng Yah

Als Vater auf dem Sterbebett lag, murmelte er im Halbschlaf immer wieder einen Namen: Jeng Yah.

Dieser Name beschwor einen Geist aus der Vergangenheit herauf, von dessen Existenz ich nicht einmal etwas geahnt hatte. Offensichtlich war es meiner Mutter gelungen, diesen Geist in all den Jahren erfolgreich zu bannen. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein mir bisher gänzlich unbekannter Zug: Mutter war eifersüchtig. Ja, diese Frau, die längst nicht mehr jung war, raste mit einem Mal vor Eifersucht. Und Mutter war wirklich furchterregend in diesem Zustand – so, als könnte sie in der nächsten Sekunde zum Angriff übergehen: auf alles und jeden, überall und jederzeit. Sie schien bereit, auf der Stelle zu vernichten, was sie wütend machte.

»Ich bin es, die ihn pflegt, seit er krank ist, und nach wem ruft er? Nach dieser Frau!«, schimpfte Mutter, und ihr Mund verzog sich vor Ärger. Sie schleuderte das Döschen mit den Medikamenten, die sie Vater an diesem Vormittag hatte geben wollen, zu Boden. Ich hörte sogar, wie sie ein Schluchzen unterdrückend in ihrer Wut flüsterte, Vater solle doch am besten jetzt gleich auf der Stelle sterben. Dass meiner Mutter eine solche Verwünschung über die Lippen kommen könnte, hätte ich nie für möglich gehalten. Ungläubig hielt ich den Atem an.

Ich wäre im Traum nicht darauf gekommen, dass es jemanden gab, der zwischen meinen Eltern stand. Sie waren nun seit siebenunddreißig Jahren verheiratet, und gäbe es ein Regierungsprogramm für vorbildliche Familien, dann hätte man meine Eltern mit Sicherheit zum Modell genommen. Wir, ihre drei Söhne, hatten ihre Ehe jedenfalls immer als sehr harmonisch empfunden. Meine beiden älteren Brüder und ich kamen zu dem Schluss, dass diese Jeng Yah aus einer Zeit stammen musste, bevor Vater und Mutter geheiratet hatten.

»Was soll das? Warum sprecht ihr diesen verfluchten Namen aus?!« Wir hatten nicht gemerkt, dass Mutter unsere Unterhaltung mit angehört hatte. Wir zuckten zusammen, verstummten und taten so, als hätten wir noch etwas sehr Dringendes zu erledigen. Unter ihrem zornigen Blick schrumpften wir innerlich auf die Größe eines Basilikumsamenkorns. Während sie uns wütend anstarrte, schien es für zwei Sekunden, als wollten ihre Augenbrauen in der Mitte zusammenwachsen. Unsere Beratung war erst mal beendet, wir gingen auseinander.

Vater hatte vor neun Jahren einen Schlaganfall erlitten, seither war die Hälfte seines Körpers tot. Es kam mir vor, als habe ihm ein Todesengel seine Seele entreißen wollen, die Sache aber nicht zu Ende gebracht. Nach dem Schlaganfall stotterte Vater mühsam, dass er lieber gleich sterben wolle, als mit dieser halbseitigen Lähmung weiterzuleben. Man konnte ihn kaum verstehen. Aber mithilfe einer Therapie ging es ganz allmählich besser. Innerhalb eines Jahres konnte Vater wieder laufen, allerdings hatte er weiterhin kein Gefühl mehr in einem Arm, und seine Aussprache blieb schwer verständlich. Außerdem hatte er seine Emotionen nicht mehr unter Kontrolle: Wenn er lachte, dann hörte er gar nicht mehr auf – auch wenn die anderen schon längst nicht mehr lachten. Und wenn er gerührt war, wie bei der Hochzeit meines ältesten Bruders Mas Tegar, dann heulte er hemmungslos wie ein Schlosshund. Es hatte sozusagen in seinem tiefsten Inneren einen emotionalen Kurzschluss gegeben. Wahrscheinlich lag das auch an diesem Todesengel, der die Hälfte von Vaters Seele mitgenommen und seine Aufgabe nicht zu Ende gebracht hatte.

So lebte Vater also neun Jahre mit halber Seele. Im letzten Jahr war es mit seiner Gesundheit allerdings steil bergab gegangen, er wurde immer schwächer. Der Todesengel kam immer öfter vorbei und nahm ein kleines Stück von ihm mit, jedes Mal auch einen Teil seines Gedächtnisses. Vielleicht sollte Vater sich nicht mehr an bestimmte Ereignisse aus seiner Vergangenheit erinnern müssen. Doch etwas ging schief, die Büchse der Pandora öffnete sich, und heraus kam ein Name: Jeng Yah.

Ich hatte meine Eltern schon drei Monate lang nicht mehr besucht. Dabei wohnte ich genau wie der Rest meiner Familie in Jakarta. Ich zog es vor, in meinem Apartment zu bleiben und auf meinen kreativen Projekten herumzudenken, die mir am Herzen lagen. Mas Karim hatte mich zwar schon mehrmals angerufen und mir von Vaters Zustand berichtet, aber ich war nicht sofort nach Hause gekommen. Noch wurde Vater ja zu Hause gepflegt, Mas Tegar und Mas Karim waren auch ständig außerhalb der Stadt unterwegs, weil sie sich wie gewohnt um die Geschäfte kümmerten, also schien es nicht so schlimm zu sein. Als ich Vater und Mutter besuchte, tat ich es eigentlich nur, weil ich wusste, dass Mas Tegar am selben Tag von einem zweiwöchigen Singapur-Aufenthalt zurückgekommen war. Ich hatte ihn vorher schon ein paarmal angerufen, aber da hatte er nie Zeit für mich gehabt. Jetzt wollte ich ihn unbedingt sprechen. Es ging um etwas Geschäftliches, das aber nichts mit der Zigarettenfabrik unserer Familie zu tun hatte.

Vater lag in seinem Zimmer. Die Vorhänge blieben nun immer geschlossen, so, als könnten die Sonnenstrahlen ihm Schmerzen bereiten. Im Zimmer hatte sich ein säuerlicher Geruch von Alter und Krankheit ausgebreitet, dabei wusste ich sicher, dass sein Zimmer jeden Tag von der Haushaltshilfe gereinigt wurde. Ich würde ein andermal mit Mas Tegar über meinen Vorschlag sprechen, beschloss ich.

»Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Was machen wir, wenn er plötzlich abtritt?« Ich machte mir Sorgen um Vater.
»Wie – abtritt?«, fragte Mas Tegar.
»Na, wenn er stirbt.«
»Um Himmels willen, Lebas! Sag doch nicht so was Hässliches«, ermahnte mich Mas Karim.
»Wieso hässlich? Schließlich muss jeder irgendwann sterben.«
Meine beiden Brüder schwiegen.
»Also, wie soll es jetzt weitergehen?«, brach Mas Karim unser Schweigen.
»Ich denke, wir müssen Mutter fragen … wegen dieser Jeng Yah«, sagte ich.
»Hast du nicht Mutters Gesicht gesehen? Willst du, dass sie dir den Kopf abschlägt?«
Unwillkürlich griff ich mir an den Hals, als Mas Tegar das sagte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Mutter schon heimlich eine Machete besorgt und geschliffen hatte, um damit jedem, der den Namen Jeng Yah aussprechen sollte, die Kehle aufzuschlitzen. Wir wussten ja jetzt, wie eifersüchtig Mutter war. Sie könnte sich jederzeit in eine Ninjakämpferin verwandeln.
»Aber wenn Vater deshalb nicht in Frieden sterben kann?« Ich ließ nicht locker.
»So ein Blödsinn. Wenn jemand sterben muss, dann stirbt er!«
»Das kannst du so nicht sagen, Mas. Wenn jemand etwas Unerledigtes zurücklässt, dann kann er zum Gespenst werden.«
Mas Tegar verpasste mir eine Kopfnuss.
»Du hast zu viele Horrorfilme gesehen!«, sagte er verärgert. Ich strich mir die Haare glatt.
»Mas, sieh dir Vater doch an. Ständig ruft er nach Jeng Yah. Das ist bestimmt sein letzter Wunsch. Vielleicht will er sie noch mal sehen, oder er will wissen, wie es ihr geht. Jedenfalls will er etwas von dieser Jeng Yah. Sollen wir Vaters letzten Wunsch einfach nicht beachten? Wagst du das?«
»Du hast ja recht, aber dieser letzte Wunsch bringt Mutter zur Weißglut.«
»Wenn es Mutters letzter Wunsch wäre, ihre Jugendliebe wiederzutreffen, dann würde ich ihr den auch erfüllen. Das kannst du mir glauben!«, sagte ich so überzeugend wie möglich.
»Ist Jeng Yah denn wirklich Vaters Jugendliebe?«, fragte Mas Karim. Uns wurde bewusst, dass wir nicht das Geringste über Jeng Yah #wussten. Das Wort Jugendliebe war mir einfach so rausgerutscht. Ich hatte es mir so zurechtgereimt, seit dieser Name zum ersten Mal gefallen war.»Natürlich ist das seine Exfreundin.« Ich tat so, als sei ich absolut sicher. »Wieso sollte Mutter sonst so eifersüchtig reagieren?«
»Wenn das so ist, dann frag Mutter doch nach Jeng Yah.« Mas Karim zeigte auf meine Nase.
»Wer – ich?! Mas Tegar muss das machen. Dem wird sie sicher nicht den Kopf abschlagen, er leitet doch die Fabrik. Ich dagegen … ich bin völlig unwichtig, mich braucht niemand, für die Fabrik bin ich auch überflüssig.«
Mas Tegar holte tief Luft. Er ärgerte sich, weil ich recht hatte. Mas Tegar war der Lieblingssohn, die Hoffnung der Eltern, der Erstgeborene, der von Anfang an unsere Zigarettenfabrik weiterführen sollte. Die Fabrik unserer Familie, die die Marke Djagad Raja – ›Universum‹ – herstellte.
»Und wie wäre es, wenn wir Vater nach Jeng Yah fragen?«, schlug Mas Karim vor.
»Einverstanden!«
»Unmöglich!«
Mas Tegar und ich hatten gleichzeitig geantwortet. Nun starrten wir uns an. Bevor Mas Tegar etwas sagen konnte, fuhr ich fort: »Vater ist doch gar nicht mehr richtig bei Bewusstsein, wie sollen wir denn mit ihm reden?«
»Man könnte es ja mal versuchen!«
Ich dachte kurz nach. Es wäre tatsächlich besser, erst mal mit Vater zu reden, bevor wir direkt bei Mutter nachfragten.
»Also gut«, willigte ich zögernd ein. Mas Tegar rutschte auf seinem Stuhl nach vorn.
»Du bleibst doch heute Abend bei Vater, vielleicht ergibt sich eine gute Gelegenheit, ihn zu fragen.«
»In Ordnung.« Überzeugt war ich aber eigentlich nicht.
»Sei nur vorsichtig, dass Mutter nichts merkt«, ermahnte mich Mas Tegar.
Ich nickte. »Wenn ich es nicht schaffe, seid ihr dran. Wer von uns als Erster die Gelegenheit hat, der fragt Vater. Das ist unser Plan A.«
»Und was ist Plan B?«
»Mas Tegar fragt Mutter.«
Mas Tegar schaute weg. Er war schon wieder sauer auf mich. Jetzt würde es noch schwieriger werden, ihn auf mein Projekt anzusprechen.
Als Mas Tegar ging, beschloss ich, mit Mas Karim zu reden. Ich zeigte ihm mein Konzept als Powerpoint-Präsentation auf meinem Laptop. Mas Karim seufzte.
»Du weißt doch, dass ich dir in dieser Sache nicht helfen kann. Du musst mit Mas Tegar sprechen.«
»Aber könntest du mich nicht ein bisschen unterstützen?«
»Wie denn? Mas Tegar war da sehr deutlich.«

Ich war ziemlich wütend und enttäuscht. Ich, sein eigener Bruder, war genauso Erbe der Zigarettenmarke Djagad Raja. Aber man ließ mir keinen Handlungsspielraum. Ich war eben anders als meine beiden Brüder, denn als Einziger von uns bewegte ich mich in der Welt der Kunst. Jedenfalls nannte ich es Kunst. Meine Brüder dachten anders darüber.

Vater lag da wie ein Stück Holz. Einen alten Menschen zu betrachten ist merkwürdig. Vaters Haut war faltig wie Baumrinde, er erinnerte mich an das Holzstück, aus dem der Tischler Gepetto Pinocchio geschnitzt hat. Ja, mein Vater war Pinocchio. Die Seele seiner Jugend hatte er sich noch irgendwo im Innern des Holzstückes bewahrt. Die Narbe auf seiner Stirn schien immer tiefer zu werden. Noch vor wenigen Monaten, bevor Vater zum Holzstück wurde, war diese Narbe nicht so ausgeprägt. Anders als die Narbe von Harry Potter, die die Form eines Blitzes hat und ein Zeichen seiner Zauberkraft ist, war Vaters Narbe ein einfacher Strich. Man konnte auch noch die drei Einstiche erkennen, mit denen die Wunde genäht worden war. Die Narbe befand sich im Haaransatz, Vater hatte dort eine kleine kahle Stelle. Ich hatte Vater mehrmals nach dieser Narbe gefragt und immer sagte er, sie sei eine Erinnerung an seine wilde Jugend. Was Vater unter einer wilden Jugend verstand, konnte ich mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen. Ich kannte Vater nur diszipliniert, geradeaus und niemals wild. Er erzählte noch, er hätte sich mit jemandem geprügelt, und dieser Jemand habe ihm den Glaszylinder einer Petroleumgaslampe über den Schädel gezogen, während er selbst unbewaffnet gewesen sei. »Da hatte ich natürlich keine Chance!« So endete er immer, dazu noch mit einem heldenhaften Unterton – obwohl er doch den Kampf verloren hatte. Später, wenn ich selbst einmal so alt war, würden sich meine eigenen Kinder auch darüber Gedanken machen, wie ich in meiner Jugend war? Dann dachte ich: Kinder? Ach was … ich wusste ja noch nicht einmal, wer die Mutter dieser Kinder sein könnte.

Ich versuchte, mir das Gesicht von Jeng Yah vorzustellen. Hatte sie eine toupierte Hochfrisur? Trug sie einen weiten Rock, in dem sie sich immer im Kreis drehen wollte, damit er sich ausbreitete wie ein Teller? Offensichtlich hatte Jeng Yah Vater tief beeindruckt, sonst hätte er nicht jetzt, in seinen letzten Lebenstagen, ihren Namen so oft ausgesprochen. Ach ja … und wie war wohl ihr vollständiger Name? Ich betrachtete meinen schlafenden Vater. Er hüstelte ab und zu, und seine Augäpfel bewegten sich von rechts nach links. Dann schlug er die Augen auf.

»Junge …«, murmelte Vater. Ich rückte näher zu ihm hin.
»Ja, Vater?«
»Ich muss mal pinkeln. Bring mich bitte zur Toilette.«
»Du kannst einfach pinkeln. Du hast doch den Katheter.«
»Ach ja, das hatte ich vergessen.«
Vater schwieg und schien sich aufs Wasserlassen zu konzentrieren. Gelbe Flüssigkeit rann durch den Katheterschlauch. Wenig später schaute Vater wieder in meine Richtung.
»Junge …«
»Ja, Vater? Was ist? Möchtest du etwas trinken?«
»Ja.«
Ich füllte Trinkwasser in eine Plastikflasche und hielt ihm den Trinkhalm an den Mund. Langsam trank er ein paar Schlucke, dann sah er mich lange an.
»Du bist mein Sohn, Junge …«
»Ja, Vater.«
»Auch wenn du mit der Fabrik nichts zu tun haben willst, bist du doch trotzdem mein Junge«, sagte Vater leise.
»Ja, Vater.« Ich hatte einen Kloß im Hals und musste die Tränen zurückhalten. Bloß nicht weinen! Bloß nicht weinen!, sagte ich mir.

Was für ein Unterschied zu damals, als ich zum ersten Mal gesagt hatte, dass ich nicht in der Fabrik arbeiten wolle! Vater hatte mich verflucht und war sogar so weit gegangen, mich von der Liste der Erben der Djagad-Raja-Dynastie zu streichen. Der Anblick von Vaters niedergestrecktem Körper ließ mich an diese noch nicht sehr lange zurückliegenden Ereignisse denken. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, dann würde ich mehr für meine Familie tun und mich Vaters Wünschen fügen. Ich hoffte, dass es noch nicht zu spät war.

»Vater …« Noch immer ruhte sein ausdrucksloser Blick auf mir. »Wer ist Jeng Yah?«, fragte ich vorsichtig.
»Woher kennst du diesen Namen?«
»Von dir selbst. Als du im Halbschlaf lagst.«
Vater stieß langsam ein meckerndes Lachen aus, so, als sei er sich einer großen Dummheit bewusst geworden.
»Träumst du von Jeng Yah?«
»Ja, ich träume von ihr. Weiß Mutter davon?«
»Ja.«
Wieder lachte Vater verlegen.
»Möchtest du Jeng Yah wiedersehen?«
»Ja … aber sag deiner Mutter nichts. Sie wird sonst wütend.«
»Wo ist Jeng Yah?«
»Zuletzt habe ich sie in Kudus getroffen, aber das ist schon lange her … vor deiner Geburt.« Kudus, die Heimatstadt von Djagad Raja – natürlich! Dort hatte Vater seine Jugend verbracht.
»Kannst du Jeng Yah suchen, Junge?«
»Ich weiß nicht, Vater«, antwortete ich. Wir schwiegen. Vater sah mich an, und ich sah Vater an.
»Ich bin müde«, sagte er unvermittelt.
»Ja, schlaf erst mal.« Es gab noch so viele Fragen, die ich ihm stellen wollte.
Vaters Blick ruhte auf mir, während seine Augen langsam zufielen. Dann schlief er ein.
….

Klobot Djojobojo

Idroes Moeria hatte von der Prophezeiung zum ersten Mal in einer kleinen Moschee gehört: Ein islamischer Gelehrter erklärte, König Djojobojo habe vorhergesagt, Indonesien werde einst dreieinhalb Jahrhunderte lang unter der Knechtschaft weißer Herren stehen. »Ya, Londo iku sing gawe sengsoro! «, sagte der Gelehrte. »Die Holländer haben uns leiden lassen!« Doch die Prophezeiung ging noch weiter: Das Land würde befreit von älteren Brüdern mit gelber Haut. Nun rechnete Idroes Moeria im Stillen nach, und wenn er sich nicht verrechnet hatte, müsste im nächsten Jahr für die Holländer die Zeit gekommen sein, Indonesien zu verlassen. Seither glaubte er fest daran, dass die Dinge sich zum Guten wenden würden.

Idroes Moeria wollte es zu etwas bringen. Er wollte vom einfachen Arbeiter zum Kleinunternehmer aufsteigen. Auch wenn seine Mutter zu sagen pflegte: »Versuch nicht, nach den Sternen zu greifen, Le!« Idroes Moeria lebte allein mit seiner Mutter. Sein Vater war gestorben, als er dreizehn Jahre alt war, und von da an hatte er die Verantwortung für seine Mutter übernommen. Die Mutter verdiente etwas dazu, indem sie bei den Nachbarn, die in deutlich besseren Verhältnissen lebten, die Kinder hütete. Idroes Moeria hatte zunächst angefangen, für Pak Trisno als Zigarettendreher zu arbeiten, doch mittlerweile vertraute Pak Trisno ihm so weit, dass er die Päckchen mit Maisblattzigaretten füllen und sogar gelegentlich die Lieferungen austragen durfte. Die Zigaretten wurden auf dem Markt und in Apotheken verkauft.

Idroes Moeria war schnell vom Kind zum jungen Mann gereift. Das letzte Mal hatte er geweint, als er zusehen musste, wie das Grab seines Vaters mit Erde zugeschüttet wurde. Das Leben mit seiner Mutter war hart, und sie hatten nur das Nötigste, aber seine Tränen waren zusammen mit dem Leichnam seines Vaters begraben worden. Wie viele junge Leute seines Alters träumte auch Idroes Moeria von einer besseren Zukunft, und er war entschlossen, sich aus der Armut zu befreien und für seine Kinder und Enkel den Grundstein für ein Leben in Wohlstand zu legen. Er wollte seine eigene Familie und seine Mutter glücklich machen. Sein größtes Problem war, dass er noch keine eigene Familie hatte. Würde Roemaisa, die hübsche Tochter des Schreibers, ihn erhören, obwohl er nur ein einfacher Zigarettendreher und dazu noch Analphabet war?

Seit er für Pak Trisno arbeitete, beobachtete Idroes Moeria seinen Dienstherrn insgeheim ganz genau. Er verehrte Pak Trisno sehr und betrachtete ihn als Ersatz für seinen verstorbenen Vater. Idroes Moeria sah, dass das Geschäft mit den Maisblattzigaretten Pak Trisno ein recht gutes Leben ermöglichte. Weiterhin hatte er bemerkt, dass die anderen Zigarettenmarken, die es schon länger auf dem Markt zu kaufen gab, an anderen Orten hergestellt wurden. Hauptsächlich kamen sie aus Kudus in das kleine Städtchen M, wo Idroes Moeria lebte. Die Maisblattzigaretten von Pak Trisno wurden allgemein nur Klobot Trisno genannt, klobot wegen der Maisblatthülle, und tatsächlich gab es keinen Namen auf der Verpackung. Idroes Moeria träumte davon, eigene Maisblattzigaretten herzustellen, so wie Pak Trisno, nur dass in seiner Vorstellung sein eigenes Unternehmen noch viel größer und fortschrittlicher war. Er hatte sich bereits einen Markennamen für seine Zigaretten ausgedacht und plante, eine besondere Verpackung zu verwenden, damit die Käufer seine Marke leicht erkennen könnten.

Das hübsche, schweigsame Mädchen hieß Roemaisa. Sie machte Idroes Moeria neugierig, und aus Neugier wurde Liebe. Sie war anders als die Mädchen, die stets in kichernden Grüppchen anzutreffen waren. Roemaisa war dagegen oft allein unterwegs, und ihr Gang war geschmeidig wie der einer Katze. Viele junge Männer hatten ein Auge auf sie geworfen. Wenn Idroes Moeria ihr auf der Straße begegnete und ihre Blicke sich trafen, dann lächelte sie kurz, senkte aber sofort den Blick und ging weiter, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Dieses Lächeln ist ein Zeichen, dachte Idroes Moeria, keinem anderen lächelte sie zu. Auch wenn sie noch nie miteinander gesprochen hatten, so war Idroes Moeria doch überzeugt, dass dieser Blick und dieses kurze Lächeln deutlich zeigten: In Roemaisas Herz keimte ein Samenkorn der Liebe für ihn.

Als Tochter eines Schreibers führte Roemaisa ein Leben in Wohlstand, hinter dem die Verhältnisse eines einfachen Arbeiters weit zurückblieben. Wenn Idroes Moeria um ihre Hand anhalten wollte, dann müsste er sicherstellen können, dass Roemaisa an seiner Seite ein angenehmes Leben haben würde. Niemals würden Roema-isas Eltern sie einem Mann anvertrauen, der ihr keinen angemessenen Lebensstandard bieten könnte. Außerdem konnte Roemaisa die lateinische Schrift lesen und schreiben, Idroes Moeria hatte zufällig von Ferne gesehen, wie sie einer Freundin half, einen Liebesbrief zu entziffern. Er selbst hatte, wie die meisten seiner Altersgenossen, nur gelernt, den Koran zu rezitieren. So konnte er zwar die arabische Schrift lesen, jedoch ohne die arabische Sprache zu verstehen. Alle Kinder gingen zum Koranunterricht in die Moschee, aber nur die wenigen, die die Volksschule besuchten, beherrschten auch das lateinische Alphabet. Idroes Moeria fühlte sich minderwertig.

Ein Freund von Idroes Moeria, der auch Zigaretten-dreher war, hatte ebenfalls Interesse an Roemaisa. Er hieß Soedjagad. Auch wenn die beiden von klein auf befreundet waren, wenn es um Roemaisa ging, betrachtete Idroes
Moeria seinen Freund als Konkurrenten. Insgeheim dachte Idroes Moeria voller Verachtung, dass der Name Soedjagad für einen so dummen Menschen völlig unangemessen sei. Der Name bedeutete immerhin »Quelle des Universums« und war damit höchst bedeutungsvoll. In der javanischen Tradition herrschte die Überzeugung, dass ein solches Missverhältnis zwischen dem Namen und den Eigenschaften eines Menschen diesen krank machen kann.

Als Idroes Moeria die Nachricht erreichte, dass die Holländer das Land verlassen hatten und die in der Prophezeiung erwähnten älteren Brüder in Gestalt der Japaner angekommen waren, kniete er nieder und verneigte sich vor Dankbarkeit bis zum Boden. Das war der Beginn der besseren Zukunft, die er sich ausgemalt hatte! Die Stadt Soerabaia war bereits den Japanern übergeben worden. Er bewunderte die Stärke dieser älteren Brüder, denen es in so kurzer Zeit gelungen war, die Holländer aus seinem Land zu vertreiben, und obwohl ihm noch kein Japaner persönlich begegnet war, war Idroes Moeria diesem Volk sehr dankbar.

An diesem Tag erschien ihm die Kleinstadt M hübsch und freundlich. Das Beste war, dass die Befreiung mit einem Fahrradkonvoi gefeiert wurde, der geradewegs am Haus des Schreibers vorbeiführte. Wer weiß, vielleicht konnte er einen Blick auf Roemaisa erhaschen, wenn sie zufällig gerade am Fenster stand. Absichtlich ließ Idroes Moeria sein Fahrrad langsamer rollen, als er an Roemaisas Haus vorbeikam. Er konnte sein Glück kaum fassen: Die Haustür stand offen, und Roemaisa saß auf einem der Besuchersessel im Eingangsraum. Der Anblick von Roemaisa schien seinem Fahrrad augenblicklich Flügel zu verleihen, doch im nächsten Moment zersprang sein Glück in tausend Stücke, als er sah, wer Roemaisa gegenübersaß: Soedjagad. Idroes Moeria hielt am Ende der Straße an, überwältigt von einer Mischung aus Neugier und Verwirrung. Was wollte sein Freund mit dem übertriebenen Namen beim Schreiber? Und Roemaisa hatte ihn offensichtlich empfangen. Soweit er wusste, war Soedjagad noch nie zu Besuch im Haus des Schreibers gewesen, obwohl sein Konkurrent schon seit einiger Zeit hinter Roemaisa her war. Oder sollte ich mich getäuscht haben?, dachte Idroes Moeria, vielleicht war es gar nicht Soedjagad, den ich dort gesehen habe. Idroes Moeria nahm all seinen Mut zusammen, drehte das Fahrrad um und beschloss, sich Gewissheit zu verschaffen. Er fuhr den Weg zurück, den er gekommen war, und wieder verlangsamte er sein Tempo, als er am Haus von Roemaisa vorbeirollte. Ohne Zweifel, es war Soedjagad, der da mit Roemaisa im Empfangszimmer saß, und nun sah Idroes Moeria zudem ganz deutlich, dass auch der Schreiber selbst und seine Frau in der Runde saßen. Sollte Soedjagad etwa gekommen sein, um …? Er wagte nicht, den Satz zu Ende zu denken.

In der folgenden Nacht konnte Idroes Moeria nicht schlafen. Es regnete heftig, obwohl doch am Vormittag noch die Sonne geschienen hatte. Das Wetter schien ein Spiegel von Idroes Moerias Stimmung zu sein. Was bedeutete es noch, dass die Holländer abgezogen waren, wenn Roemaisa einem anderen versprochen war? Er war überzeugt, dass er bis an sein Lebensende Junggeselle bleiben würde, wenn Roemaisa und Djagad heirateten. Vielleicht waren seine Pläne für die Zukunft gut, aber welchen Nutzen hatten sie, wenn sie zu spät verwirklicht würden? Ein Mann, der einfach mehr Schneid hatte als er selbst, ein Mann namens Soedjagad, hatte um Roemaisas Hand angehalten. Stimmte das wirklich? Vielleicht hatte er einfach einen Höflichkeitsbesuch gemacht. Aber wozu? Idroes Moeria fand keine Ruhe. Er warf sich auf dem Bett hin und her und tat kein Auge zu. Es gab nur einen Weg, sich Gewissheit zu verschaffen: Er musste Djagad ohne Umschweife fragen.

Am nächsten Tag fragte er Soedjagad, ob er im Haus des Schreibers zu Besuch gewesen sei, und Soedjagad fragte erschrocken zurück, woher er das wisse. Idroes Moeria antwortete, er sei am Vortag am Haus des Schreibers vorbeigefahren und habe ihn gesehen. Da gab Soedjagad es zu, wollte aber den wahren Grund des Besuchs nicht preisgeben. Er behauptete, nur ein paar Päckchen Klobot vorbeigebracht zu haben, die der Schreiber bestellt hatte. Aber das konnte gar nicht sein. Seit wann bestellte der Schreiber Zigaretten zu sich nach Hause? Nur größere Mengen wurden zum Käufer ausgeliefert. Wollte der Schreiber jetzt auch noch Zigarettenvertreter werden? Djagad antwortete nicht. Er schwieg einfach und drehte weiter Zigaretten. Idroes Moeria fand die Erklärung von Soedjagad völlig unglaubwürdig.

In der Pause ging Idroes Moeria sofort zu Pak Trisno und fragte ihn, ob es stimme, dass der Schreiber Vertreter für seine Zigaretten werden wolle. Pak Trisno war verblüfft über diese Frage und wollte wissen, woher Idroes Moeria eine solch merkwürdige Geschichte habe. Jedenfalls könne das keinesfalls stimmen, sonst würde Pak Trisno es schließlich wissen. Doch Idroes Moeria fragte weiter, warum der Schreiber dann eine so große Menge Klobot Trisno gekauft habe, dass die Bestellung zu ihm nach Hause geliefert wurde. Auch das stimme nicht, antwortete Pak Trisno, der Schreiber habe noch nie Zigaretten bei ihm bestellt. Nun war also klar, dass Soedjagad gelogen hatte. Idroes Moeria fand keine Ruhe. Bis zum Ende des Arbeitstages schien Djagad ihm aus dem Weg zu gehen.

Idroes Moeria saß mit einer Klobot in der Hand am Wegesrand im Gras und zerbrach sich den Kopf über die Geschehnisse des gestrigen Tages, als er das Mädchen sah, an das er ständig dachte. Sofort warf Idroes Moeria die Zigarette weg und sprang auf. Schnell trat der die Zigarette, die erst zur Hälfte aufgeraucht war, aus. Mit einem ehrfürchtigen Lächeln grüßte er Roemaisa. Wie immer hatte sie den Blick gesenkt. Als sie an ihm vorbeiging, ohne anzuhalten, hob sie kurz den Kopf, schenkte ihm ein süßes Lächeln und sah gleich wieder zu Boden. Wieder einmal war Idroes Moeria verzaubert von ihrer Schönheit. Er wollte sie ansprechen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt, und schon war die Gelegenheit verstrichen, sie zu grüßen oder gar nach dem Besuch vom Vortrag zu fragen, denn das Mädchen war an ihm vorübergegangen. Idroes Moeria stand wie angewurzelt da, und es blieb ihm nur noch, ihren sich entfernenden Rücken zu betrachten. Dann geschah das Wunder. Roemaisa blieb stehen und drehte sich langsam zu ihm um. Idroes Moeria war vollkommen verblüfft. Er wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Und dann sprach Roemaisa – mit der wunderbarsten und schönsten Stimme, die Idroes Moeria je gehört hatte: »Lerne lesen.« Danach drehte sie sich wieder um und ging weiter.

Idroes Moeria war wie versteinert angesichts des Wunders, das er soeben erlebt hatte. Gottes Gnade ist wahrhaft grenzenlos, dachte er. Ein Tag voller Trübnis kann von einem Moment zum nächsten wieder klar und hell werden. Auf dem Heimweg trat er mit neuer Energie in die Fahrradpedale. In der Nacht versuchte er, die Bedeutung dieser beiden Worte aus Roemaisas Mund auszuloten: Lerne lesen. Langsam sickerten die beiden Worte in sein Innerstes. Lerne lesen. Lerne lesen. Lerne lesen. Lerne lesen.

Leider wusste Idroes Moeria nicht, wie er das anstellen oder an wen er sich wenden sollte. Er fragte alle seine Freunde, ob sie jemanden kennen, der die lateinische Schrift lesen und schreiben könne, aber sie schüttelten nur die Köpfe. Sogar Soedjagad fragte er, aber der wandte sich mit einem unwirschen Gesichtsausdruck ab. Idroes Moeria beschloss also, sich auf einer Volksschule anzumelden. Sein Wille, lesen und schreiben zu lernen, war unumstößlich, selbst wenn er damit riskierte, weniger arbeiten zu können und noch weniger Geld zur Verfügung zu haben. Umso größer war seine Überraschung, als er die Schule verlassen vorfand. Das Gebäude war verwüstet. Ein alter Mann, der gerade vorbeikam, berichtete ihm, dies wäre das Werk der Japaner. Sie hätten die Lehrer gezwungen, für sie zu arbeiten, sodass kein Unterricht mehr stattfinden konnte. Danach hörte er immer häufiger, wie die Leute einander hinter vorgehaltener Hand erzählten, die Japaner würden Menschen als Zwangsarbeiter verpflichten.

Zwangsarbeit? Es fiel Idroes Moeria schwer, dieses Wort mit den Japanern in Verbindung zu bringen. Waren sie es nicht gewesen, die Indonesien von den Holländern befreit hatten? Wieso mussten die Indonesier nun zur Arbeit gezwungen werden? Hätte man sie freundlich gefragt, sie hätten sicher gern geholfen. Wenig später erhielt Idroes Moeria die Antwort auf seine Fragen. Als er morgens zur Arbeit kam, verkündete Pak Trisno, er müsse den Betrieb einstellen. Soeben seien die Japaner gekommen und hätten sämtliche Klobot, die auf Lager waren, für sich beansprucht. Sie würden als Kriegskapital benötigt. Krieg? Gegen wen? Neue Fragen taten sich auf. Pak Trisno war auch nicht in der Lage, neuen Tabak einzukaufen, weil die Japaner viele Plantagen geplündert hatten und keine Tabaklieferungen mehr in die Städte kamen. Er entschuldigte sich bei seinen Arbeitern. Den Lohn für die letzte Woche konnte er nicht auszahlen, Pak Trisno war pleite. Sein gesamter Besitz war von den Japanern als Kriegskapital beschlagnahmt worden. Enttäuscht und tief besorgt gingen die Arbeiter auseinander. So hatten die älteren Brüder aus der Prophezeiung von König Djojobojo sich also in bösartige Stiefbrüder verwandelt.

Am Nachmittag gingen Idroes Moeria und einige andere Arbeiter – darunter auch Soedjagad – noch einmal zu Pak Trisno. Sie wollten ihm ihre Trauer und Anteilnahme zeigen. Pak Trisno empfing sie mit mattem Gesichtsausdruck. Er meinte, er habe noch Glück gehabt, dass die Japaner ihn nicht gleich selbst mitgenommen hätten. Es hieß, die Japaner nähmen die Leute mit nach Soerabaia an einen Ort namens Koblen, wo sie dann schuften mussten. Pak Trisno hatte alles verloren. Schließlich sagte er, es seien noch zwei große Körbe mit getrocknetem, verwendungsfertigem Tabak übrig, die er gern zu einem günstigen Preis verkaufen wolle, und er bat seine ehemaligen Arbeiter, die Nachricht in Umlauf zu bringen.

Gedankenversunken ging Idroes Moeria heim. Dort angekommen, holte er seine gesamten Ersparnisse heraus, die er nach und nach mühsam von seinem Lohn beiseitegelegt hatte. Am Abend ging er noch einmal zu Pak Trisno und sagte ihm, dass er die beiden übrig gebliebenen Körbe mit Tabak kaufen wolle. Er zählte seine Ersparnisse auf den Tisch. »Das ist leider alles, was ich bezahlen kann«, erklärte er und schob Pak Trisno das Geld zu. Pak Trisno brach in Tränen aus, doch er nahm das Geld an, auch wenn es weit weniger war, als er selbst für den Tabak bezahlt hatte.

»Ich habe aber nur den Tabak. Maisblätter habe ich keine mehr«, sagte Pak Trisno.
»Das macht nichts, die Maisblätter kann ich mir selbst besorgen und zurechtschneiden.«
Pak Trisno nickte traurig.
»Pak … ich habe noch eine Bitte.«
»Was denn?«
»Bitte bringen Sie mir die lateinische Schrift bei.«
Müde stimmte Pak Trisno zu. Am nächsten Tag solle Idroes Moeria wiederkommen, dann würde er ihn im Lesen und Schreiben unterrichten.

An diesem Abend kam Idroes Moeria noch zweimal zu Pak Trisno, um die Tabakkörbe abzuholen, und Pak Trisno schenkte ihm noch einen Rest Gewürznelken. Für den Transport hatte er sich einen kleinen Ochsenkarren ausgeliehen. Nun war seine Chance gekommen, mit einer eigenen Zigarettenproduktion zu beginnen.

Früh am folgenden Morgen ging Idroes Moeria zu einem Maisfeld. Er kaufte den Arbeitern für wenig Geld etliche Hüllblätter ab, breitete sie in flachen Körben aus und ließ sie auf dem Wellblechdach seines Hauses trocknen. Nun war Idroes Moeria bereit, seine ersten eigenen Maisblattzigaretten herzustellen. Später ging er zu Pak Trisno und begann mit dem Unterricht. Pak Trisno holte ein Brett und ein Stück Kreide und fing mit den Vokalen an. Gerade hatte Idroes Moeria die Vokale auswendig gelernt, da kam ein neuer Gast: Soedjagad.

Während er Pak Trisno höflich grüßte, beobachtete er Idroes Moeria aus dem Augenwinkel, wie dieser sich abmühte, die von Pak Trisno geschriebenen Buchstaben nachzuahmen. Idroes Moeria wiederum spitzte die Ohren, um das Gespräch der beiden zu belauschen.

»Pak, ich habe einen Käufer für den Tabak gefunden.«
»Oh, jetzt ist es zu spät, Le …!«
»Was soll das heißen?«
»Wis dituku wong. Es hat schon jemand anders ge-kauft.«
»Wer denn?«
»Er.« Pak Trisno zeigte in die Richtung von Idroes Moeria, der unwillkürlich grinsen musste, weil über ihn gesprochen wurde.
»Für wen hast du den Tabak gekauft?«
»Für niemanden. Er ist für mich.«
»Wozu kaufst du denn so viel Tabak? Willst du rauchen, bis du umfällst?«

Idroes Moeria grinste einfach weiter. Er hatte keine Lust, seine Pläne zu verraten, die anderen würden schon sehen, was er vorhatte. Enttäuscht zog Soedjagad von dannen, seine Vermittlungsgebühr war dahin.

Auf dem Heimweg machte Idroes Moeria einen kleinen Umweg und fuhr mit dem Fahrrad am Haus von Roe-maisa vorbei. In seinem Kopf schwirrten die Buchstaben des lateinischen Alphabets. Heute war die Tür geschlossen. Gern hätte er dem Mädchen laut zugerufen, dass er mit dem Leseunterricht begonnen hatte. Zu Hause angekommen, holte Idroes Moeria die getrockneten Maisblätter vom Dach. Er borgte sich von seiner Mutter das schwere Holzkohlebügeleisen und bügelte vorsichtig ein Maisblatt nach dem anderen glatt, anschließend schnitt er sie mit einer Schere zurecht. Als er fertig war, betrachtete er zufrieden den selbst gemachten Maisblattstapel neben seinem Bett. Jetzt hatte er keine Zweifel mehr daran, dass eine glänzende Zukunft als Zigarettenhersteller vor ihm lag. Während er noch ausrechnete, wie viel der Verkauf seiner ersten selbst hergestellten Klobot ihm einbringen würde, schlief er leichten Herzens ein. Dieses Geld wollte er verwenden, um bei Roemaisas Vater um ihre Hand anzuhalten.

Am nächsten Tag begann er nach dem Unterricht bei Pak Trisno, die ersten Zigaretten zu drehen. Er schaffte vierhundert Maisblattzigaretten an diesem Tag. Das war nicht viel, aber er arbeitete ja auch nur den halben Tag. Als Arbeiter von Pak Trisno hatte er täglich bis zu eintausendzweihundert Zigaretten gedreht, besonders fleißige Arbeiter mit geschickten Händen brachten es auf zweitausend. Mit geschlossenen Augen konnten sie das Maisblatt zur Zigarette drehen und das Ende mit einem feinen Hanffaden zubinden. Idroes Moeria hätte noch weiterarbeiten können, aber er musste aufhören, bevor die Sonne unterging, denn er brauchte den letzten Sonnenschein, um die Zigaretten noch einmal kurz zu trocknen. Zum Abschluss besprühte er sie gleichmäßig mit in Wasser gelöstem Saccharin, das machte sie süß und zugleich wasserabweisend.

Als die letzten Sonnenstrahlen verschwunden waren, trug Idroes Moeria die Zigaretten vorsichtig ins Haus. Er wollte auf keinen Fall riskieren, dass Tau oder gar Regen seine erste Produktion ruinierten. Er befühlte die Zigaretten vorsichtig und stellte fest, dass viele noch nicht richtig trocken waren. Am nächsten Morgen, wenn der Morgentau vollständig verdunstet war, würde er sie noch einmal in der Sonne trocknen lassen, bevor er wieder zu Pak Trisnos Unterricht ging.

Idroes Moeria zündete eine Klobot, die bereits gut durchgetrocknet war, an. Seine erste eigene Zigarette. Während er langsam den Rauch einsog, ließ er die anderen Zigaretten nicht aus den Augen. Soedjagads Worte klagen in seinen Ohren nach: ›Willst du rauchen, bis du umfällst?‹ Idroes Moeria lachte leise. Der Name, den er sich für seine Zigarettenmarke ausgedacht hatte, erschien ihm passender denn je: Klobot Djojobojo. Ja, das war ein guter Name.

Idroes Moeria war stolz auf sich. Er hatte sein Schicksal selbst in die Hand genommen und würde nie wieder für andere Leute arbeiten, sondern alles selbst machen. Weil er kein Geld hatte, um Etiketten drucken zu lassen oder gar eine Verpackung in Auftrag zu geben, kaufte Idroes Moeria einige Bögen braunes Packpapier. Die schnitt er zurecht und faltete kleine Päckchen für jeweils zehn Zigaretten. Als Nächstes ließ er etwas Sagomehl über dem Feuer schmelzen und bestrich damit die Päckchen, um sie stabiler zu machen. Idroes Moeria hatte vor, seine Zigaretten den Apotheken und kleinen Geschäften auf dem Markt als Kommissionsware anzubieten. Doch das war nicht so leicht, wie er es sich vorgestellt hatte.

Die Verkäuferinnen in den Apotheken waren skeptisch, als sie die Zigarettenpäckchen von Idroes Moeria sahen. In der Tat war die Verpackung wenig überzeugend, und ein Etikett gab es schon gar nicht. Die Leute waren gewohnt, Zigaretten an ihrer Verpackung oder zumindest an ihrem Etikett zu erkennen, und je nobler diese gestaltet waren, desto besser war auch die Qualität. Der chinesische Inhaber einer Apotheke zeigte schließlich Interesse, wollte aber zuerst eine der Zigaretten selbst probieren. Er erklärte, dass die meisten seiner Kunden Zigaretten kauften, weil sie daran glaubten, dass sie gegen Atemwegserkrankungen helfen würden. Tatsächlich wurden Nelkenzigaretten anfangs als Medizin gegen Asthma verkauft, weil den Gewürznelken eine heilende Wirkung gegen dieses Leiden nachgesagt wurde. Idroes Moeria war einverstanden und schrieb die Zigarette als notwendige Werbemaßnahme zur Gewinnung von Kunden ab. Der Chinese nahm ein Streichholz und zündete eine Klobot an.

»Man schmeckt ja gar keine Nelken, die kann ich nicht verkaufen. Wong sing asma ra bakal mari.« Mit typisch chinesischem Akzent brachte der Geschäftsinhaber sein Missfallen zum Ausdruck. »Davon werden die Asthmakranken nicht gesund.«

Er hatte recht, tatsächlich hatte Idroes Moeria dem Tabak nur sehr wenig geschrotete Gewürznelken beigemischt. Pak Trisno hatte ihm nur einen kleinen Rest geschenkt, und Idroes Moeria hatte kein Geld, um weitere dazuzukaufen.

Dennoch erklärte der Chinese sich schließlich bereit, die Zigaretten in sein Warensortiment aufzunehmen – unter der Bedingung, dass Idroes Moeria in Zukunft den Anteil an Gewürznelken erhöhte. Idroes Moeria versprach es. Er nahm die Kritik sehr ernst, wollte er doch möglichst genau wissen, welche Wünsche die Käufer hatten. Das schien ihm äußerst wichtig für die Zukunft des kleinen Unternehmens, das er eben erst gegründet hatte.

Es dauerte nicht lange, bis Idroes Moeria lesen und schreiben gelernt hatte, und von nun an schrieb er den Namen Klobot Djojobojo direkt auf die Verpackung seiner Zigaretten. Außerdem begann er, alle Ausgaben sauber in ein Notizheft einzutragen und auf jeder Seite mit einem Lineal einen senkrechten Trennstrich für den Seitenrand einzufügen. Seine Schrift wurde mit der Zeit flüssiger und geschmeidiger. Am Anfang hatte er einen Bleistift benutzt, nun ging er zu Tinte über. Alle drei Tage besuchte er die Geschäfte, die seine Zigaretten in Kommission verkauften, erkundigte sich nach den Verkaufszahlen und rechnete den Erlös ab.

Idroes Moeria stellte sich auf die Wünsche der Käufer ein. So wie er es dem Chinesen versprochen hatte, gab er den Zigaretten, die in Apotheken angeboten wurden, mehr Gewürznelken bei. Die kleinen Kioske auf dem Markt erhielten dagegen Zigaretten mit geringerem Nelkenanteil. Die beiden Sorten hielt Idroes Moeria genau auseinander, obwohl die Verpackungen sich äußerlich nicht unterschieden. Dann versuchte es Idroes Moeria noch mit einer dritten Sorte: Viele Landarbeiter rauchten am liebsten selbst gedrehte Zigaretten. Die Bestandteile – Tabak, Gewürznelken und Maisblätter – waren auch einzeln erhältlich, und die Landarbeiter mischten gern noch etwas Benzoeharz darunter. Idroes Moeria wagte den Versuch. Er drehte einige Zigaretten mit dieser Mischung und verpackte sie mit rotem Papier. Auf diese Päckchen schrieb er Klembak Menyan Djojobojo. Die beiden anderen Sorten verpackte er weiterhin mit braunem Papier, und auf jedes einzelne Päckchen schrieb er eigenhändig den Markennamen.

Als Idroes Moeria eines Tages wieder auf dem Markt war, traf er bei einer seiner Stammkundinnen auf einen Mann, der ebenfalls Zigaretten als Kommissionsware anbot. Der Mann lobte gerade den hervorragenden Geschmack seiner Zigaretten und machte dabei ein besonderes Angebot: Um sein neues Produkt einzuführen, sei er für diesen einen Tag bereit, die Zigaretten zum halben Preis abzugeben, entsprechend groß war dann der Gewinn für die Verkäufer. Aufmerksam studierte Idroes Moeria die Verpackung. Das Papier war etwas dicker, sodass die Päckchen sehr ordentlich wirkten. Ein richtiges Etikett hatten sie allerdings auch nicht. Wie bei seinen Klobot Djojobojo war auch hier der Markenname von Hand auf die Verpackung geschrieben, allerdings in sehr schöner Schrift, mit gleichmäßigen und geraden Buchstaben. Obwohl er sich bemühte, bekam er es selbst nicht so gut hin. Idroes Moeria las den Markennamen: Klobot Djagad. Djagad? Sollte das etwa heißen …

»Wer stellt diese Zigaretten her?«
»Natürlich Mas Djagad. Das sagt doch schon der Name. Möchten Sie welche kaufen?«, bot der Mann an.
»Meinen Sie Soedjagad?«, vergewisserte sich Idroes Moeria.
Der Mann nickte und warf einen Blick auf die Zigarettenpäckchen, die Idroes Moeria dabei hatte.
»Dann sind Sie sicher Mas Djojobojo, ja?« Offensichtlich konnte der Mann also lesen.
Idroes Moeria schüttelte den Kopf.
»Und wieso heißen Ihre Zigaretten dann so?«
Jetzt ergriff die Stammkundin von Idroes Moeria das Wort: »Ja genau, das habe ich mich auch schon gefragt. Du heißt doch Idroes Moeria. Du hättest auch ›Holzhocker‹ oder ›Bambusbündel‹ oder ›Stern‹ nehmen können, das wäre in Ordnung gewesen. Aber wieso einen Personennamen?«
»Mir gefällt der Name Djojobojo.« Idroes Moeria lächelte. »Dann kann Djagad jetzt also lesen und schreiben, ja?«, fragte er den Mann.
»Oh nein, Mas Djagad bezahlt jemanden dafür, dass er die Packungen beschriftet. ›Damit es gut aussieht‹, hat er gesagt.«

Djagad war also immer noch Analphabet, dachte Idroes Moeria bei sich. »Haben Sie das denn selbst geschrieben?«, fragte der Mann und zeigte auf eine Packung Klobot Djojobojo. Idroes Moeria nickte und hätte gern gewusst, was der Mann nun von ihm dachte. Rümpfte er insgeheim die Nase über ihn, weil seine Schrift hässlich war? Würde er seinem Auftraggeber postwendend berichten, dass die Schrift auf den Klobot-Djagad-Päckchen viel ordentlicher aussah? Unzählige Fragen schwirrten durch Idroes Moerias Kopf. Aber eines Tages – da war er ganz sicher – würde er genug Geld haben, um eine elegante Verpackung herstellen zu lassen. Zumindest würde er ein Etikett haben, das auf die Päckchen geklebt würde.

»Und – wollen Sie kaufen?« Tatsächlich war der Mann dreist genug, Idroes Moeria die neue Marke immer noch zum Kauf anzubieten. Unglaublich. Doch im nächsten Moment beschloss Idroes Moeria, tatsächlich einige Päckchen Klobot Djagad zu kaufen, schließlich gab es sie heute zum halben Preis. Er wusste nun, dass er neben den anderen Zigarettenmarken, die schon länger auf dem Markt waren, einen neuen Konkurrenten hatte: seinen ehemaligen Freund Soedjagad.

ENDE DER LESEPROBE

Ratih Kumala: Das Zigarettenmädchen. Aus dem Indonesischen von Hilturd Cordes. CulturBooks unplugged, 2015. 308 Seiten. 17,90 Euro. eBook 11,99 Euro. Ein Gespräch mit der Autorin finden Sie hier.
Foto: Aelke Mariska, unterstützt durch das Pullman Hotel Central Park, Jakarta

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