Radio Vatikan
Früher nannte man sie die ‚blaue Stunde’, jene Zeit an der der Nachmittag langsam welk wird und der Abend so peu à peu aufblüht. Die Damen der besseren Gesellschaft, ob in Berlin, München, Hamburg oder Frankfurt ließen sich von der Hausangestellten Tee zubereiten. Die Herren, im Absprung aus dem Büro, aber noch nicht gewillt, in die häuslichen Quartiere zurückzukehren, gingen noch einmal auf einen Drink und eine Zigarre in die Bar um die Ecke. Taghell war es nicht mehr, aber noch ließ die Nachtschwärze auf sich warten. ‚Blau’ war es eben in dieser Stunde zwischen Tag und Traum. Von diesen Alltagsvergnügen kann ich heute nur träumen. Von Hauspersonal weit und breit keine Spur. Wer kann sich die heute denn noch leisten. Tee am frühen Abend läßt mich nachts nicht schlafen. Und wo findet man denn noch in unseren modernen Massenwohnanlagen ‚eine Bar nebenan’? Und wo es sie gibt, kann sich niemand mehr einen guten Drink leisten, jedenfalls nicht jeden Tag.
Gott und Bill Gates sei Dank, gibt es aber das Internet, das mir in der täglichen ‚blauen Stunde’ den Newsletter von Radio Vatikan auf dem Monitor präsentiert. Wie bitte? Muß man sich auch das noch freiwillig antun, seine elektronische Postbox Tag für Tag mit Mail-Newslettern aus dem Vatikan vollmüllen zu lassen? Nein, man muß es nicht, wer will kann sich natürlich auch unendlich viele andere tägliche Newsletter abonnieren. Vom Apothekerverband, vom Deutschen Fußballbund, der Nahrungsmittelindustrie oder weiß der Teufel noch von wem. Ich aber lese täglich zur ‚blauen Stunde’ den Newsletter von ‚Radio Vatikan’ (Deutsche Ausgabe).
Natürlich, wen wundert’s, beginnt fast jeder Newsletter mit irgendeiner päpstlichen Botschaft zum Tage. Da wurde ein Bischof ernannt, dort pilgerten Massen zu irgendeiner verehrungswürdigen Jungfrau Maria. Das kann man sich alles schenken, wenn man nicht gerade aus beruflichen oder tiefgläubigen Gründen gerade auf diese Neuigkeiten gewartet hat. Obwohl – und hier beginnt auch schon das Lob für diesen kirchlichen Newsletter – die professionelle Berichterstattung selbst über kirchenintern heftig umstrittene Themen erstaunlich seriös und unabhängig ist. Vorbildlich etwa, wie neutral, im Unterton aber kritisch, man im vatikanischen Newsletter über die pornografischen Meditationsstunden im Priesterseminar St.Pölten unterrichtet wurde. Oder wie seriös im kühlen ‚britischen Stil’ über die im Katholizismus höchst umstrittene „Homo-Ehe“ berichtet wird.
Wirklich herausragend ist aber die tägliche weltweite „Armutsberichterstattung“ durch den Vatikan-Newsletter. Gegen jede provinzielle oder nationale Sicht, wie sie sich pestartig auch in vielen deutschen Medien verbreitet, weht in diesem kirchlichen Nachrichtendienst eine wirklich globaler Wind: Hungerprotest im Nordosten Brasiliens, Wahlbehinderungen im Kamerun, Landwirtschaftskooperativen im Süden der Philippinen, Armensolidarität in Chicago, Angriffe auf Priester und kirchliche Internetdienste in China, Verhaftungen von Journalisten auf Cuba – da gibt es nichts, was der Redaktion von Radio Vatikan entgeht. Alle wichtigen Nachrichtenagenturen werden für den täglichen Newsletter ausgewertet. Sokrates wurde einmal gefragt, was seine Heimat sei. Er antwortete nicht Athen, sondern „die Welt“.
Einmal täglich, so gegen die ‚blaue Stunde’ am späten Nachmittag und am frühen Abend, vermittelt mir der Newsletter von ‚Radio Vatikan’ ein Gefühl von Heimat.
Carl Wilhelm Macke