Pilot im Raum-Zeit-Kontinuum
Donnern auf der Startbahn. Körper werden in Sitze gedrückt. Die Beschleunigung nimmt zu. Der Druck erhöht sich. Dann das gewaltsame Abheben und der Steigflug. Minimale Beleuchtung in der Kabine. Die Erdoberfläche rast vorüber. Die Welt wird kleiner. Braun, grau, grün. Parzelliert, verschwimmt. Nach dem Durchbrechen der Homosphäre senkt sich die Nase der Maschine in die Horizontale. Endloses Blau. Und Ruhe kehrt ein. Die Luft im Inneren schmeckt nach Zahnseide. Menschen transpirieren. Knistern erfüllt die Lautsprecher. Dann eine männliche Stimme: Hallo, hier spricht Ihr Captain. Wir befinden uns im Raum der Kinästhesie. Die Zwischenzone. Das ist das Ziel. Ein anderes werden wir nicht erreichen. Ab jetzt sind wir für immer unterwegs, von nun an auf uns allein gestellt. Mit einem Krachen der Boxen endet die Durchsage. Der Pilot schaltet ab, schiebt das Mikrophon hoch, schnallt sich los. Auf zehntausend Meter Höhe ist er in seinem Schreibsetting angekommen. Er fängt zu tippen an, die Schreibmaschine auf den Knien.
Der Pilot ist Jürgen Ploog. „Ferne Routen – Die Grips Fragmente“ verarbeitet Erfahrungen aus seinem Leben als Flieger, Reisender und Autor. 33 Jahre lang war er unterwegs, die meiste Zeit auf Langstrecke. Seit etwa fünfzig Jahren veröffentlicht er Artikel, Essays, Bücher, Fragmente, Cut-ups, Logbücher. Seine Sprache ist präzise wie bei wenigen anderen Autoren der heutigen Zeit. Er hat jahrelang mit der Cut-up-Technik gearbeitet. Sie eröffnet die Möglichkeit, weit in das Leben eines ewig Reisenden einzudringen, und kommt gleichzeitig der ständigen Verschiebung des Raum-Zeitkontinuums näher. Härteres Schreiben ist kaum vorstellbar. Im Cut-up ist ein gewaltiges Schnittverhältnis nicht unüblich. Im Laufe der Jahrzehnte hat Ploog eine eigene Methode entwickelt, einen geschriebenen Plexus aus Alphabet, Sprache, Assoziationen, Déjà-vus, Träumen, Erinnerungen, medialem Sampling, und zuletzt (Grips-) Fragmenten. Literatur ist ein Stimulanzangebot. Und die Sprache ein Mittel, welches Zweifel wachruft, Leser zu sein, was ohnehin eine bloße Haltung darstellt. In „Ferne Routen“ legt er mehrere Folien übereinander. Jede einzelne bildet eine Realität ab, zusammen ergeben sie einen Raum. Eine Ebene zeigt Entropolis, Städte, die ineinander übergehen, eine endlose Megacity traumhafter, vermischter Raumzeit. Auf anderer Ebene erzählt er von einer obskuren Organisation mit Namen „die Unsichtbare Hand“ (UH), eine Organisation für heikle Aufgaben. Die Hauptfigur (Grips) ist unter anderem als Pilot für sie tätig. Sie stellt Nachrichten, Unterlagen und in seltenen Fällen sogar Menschen zu, die man lieber unterm Radar halten möchte. Eine weitere Ebene beschreibt Schlaf und Träume. Im Schlaf bereist der Träumende Welten, sammelt Erfahrungen transsinnlicher Art. Er schüttelt Teile der Wirklichkeit von sich ab. Er reist. Vor ihm liegen seine Ängste und Erfolge in verschobener Topographie, zu Teilen von oben betrachtet, wie aus einem Cockpit. Im Traum, wie auch in Entropolis begegnen Grips Frauen. Geliebte und Prostituierte. Nie ist er sicher, ob sie ihn lieben oder töten wollen. Sie schlafen mit ihm, leben bei ihm, verschwinden und verfolgen ihn im Koordinatensystem der Grade, wie Succubi aus der Zwischenzone von Vergangenheit und Zukunft. Und Grips flüchtet. Er begibt sich auf die fernen Routen, zeichnet auf, was des Weges kommt. Reisen ist, die oktroyierte Realität zu überwinden. Und Sex das Ziel aller Reisen. Auf die Frage: Wo hat es dir am besten gefallen, antwortet Grips: an Orten, die inzwischen verschwunden sind.
Haften bleiben fragmentarische Episoden, die das Erzählte verwandeln – in eine Geschichte vom permanenten Zustand, unterwegs zu sein; inklusive Euphorie, Kater, Entzug, Rückfall. Doch bevor sich ein fahler Geschmack von Verschwendung ausbreiten kann, bedient sich Ploog der Kunst, mit einem Satz auf eine andere Ebene der Realität zu wechseln, man betritt erneut den ästhetischen Raum der Bewegung. Und von seinen Wänden hallt die Schönheit des Geschriebenen in die Menschen hinein, um sich dort zu entfalten.
Roland Oßwald
Roland Oßwald ist Culturmag-Autor. Mehr zu seiner Person, Link zu seinem Blog, weitere Beiträge HIER.
Jürgen Ploog: „Ferne Routen: Die Grips-Fragmente“. Moloko Print, 2016. 267 Seiten. €15.