Geschrieben am 1. Januar 2006 von für Litmag

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2

Zwischen den Extremen

Auch in Westwärts 1&2 hat Rolf Dieter Brinkmann gesammelt, gereimt, gespielt, gelabert, gedichtet, Verständliches und Unverständliches verständlich und unverständlich aneinander montiert und Material verwendet, das jedem zugänglich ist. Von Markus Kuhn

Wie soll man einen Gedichtband wie Westwärts 1&2 von Rolf Dieter Brinkmann besprechen? Einen Band der bereits Literaturgeschichte geschrieben hat und jetzt in erweiterter Fassung vorliegt? Einen Band der ohne Zweifel geniales Material enthält: Popkulturell-Kultiges, Verspielt-Verrücktes, Kritisch-Agressives, Reflektiert-Beobachtes. Aber auch jede Menge Schwachsinn, gewollt oder auch nicht.
Westwärts 1&2 ist Brinkmanns Testament: Der große Gedichtband, an dem Brinkmann neben Rom Blicke Anfang der Siebziger fieberhaft gearbeitet hat, ist im Mai 1975, kurz nach seinem Tod, in einer aus Platzgründen gekürzten Version erschienen. Erst jetzt wurde er in der kurz vor seinem Tod noch von ihm geplanten Originalfassung herausgegeben  einschließlich 16 weggelassener Gedichte und dem Unkontrollierten Nachwort zu meinen Gedichten, einer Art poetologischer Kampfschrift.
Um es klar vorweg zu nehmen: Ich habe in Westwärts 1&2 geniale Gedichte und Texte gefunden. Auch solche, die ich kaum lesen mochte. Und alles, was zwischen diesen beiden Extrempolen möglich ist. Der Zivilisationshass, der sich immer wieder zwischen die Zeilen mischt, die Weltverachtung und Aggressivität, mit der Brinkmann seine Alltagsbilder überzieht, seine Attacken auf die Gesellschaft sind manchmal ganz schön anstrengend (aber nicht so extrem wie in Rom, Blicke). Dafür haben andere Gedichte eine zornige, mitreißende Dynamik. Und es gibt einige schöne, ruhige Gegenbilder. Ein Aufatmen, beinahe versöhnlich.
Es gibt kein anderes Material, als das, was allen zugänglich ist und womit jeder täglich umgeht, hat Brinkmann schon in Die Piloten (1968) erklärt. Es gibt kein anderes Material als das, was man aufnimmt, wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem Schaufenster vorbeigeht, […] alles ganz gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendeiner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, Meinungen, Gefasel, […] eine Schlagermelodie […], Zeilen, Bilder, Vorgänge […].

Cut up als subversiver Akt

Aber  und das ist ein zentraler Punkt: Es kommt darauf an, wie [das Material] gebraucht wird. Es gehe darum, mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte [zu] machen. Also darum, das vorhandene Material so einzusetzen, dass dadurch neue, vielleicht kritische Zusammenhänge entstehen, andere, vielleicht weiterführende Gedanken ausgelöst werden usw. Das ist  sehr grob umrissen  ein zentraler Punkt in Brinkmanns Poetologie. Dazu kommen teilweise exzessive Cut-up-Techniken (d.h. unvermittelte Montagen von heterogenem Material ohne Rücksicht auf die Kompatibilität) und die radikale Gegenwartsfixierung, die sich hinter seinem Konzept des Snap-Shot, der Momentaufnahme verbirgt. Der Blick wird auf die Oberfläche gerichtet. Das Nebeneinander von Eindrücken ist mitunter beinahe filmisch.
Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die RocknRoll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter …, erklärt Brinkmann im Vorwort von Westwärts 1&2. Die Gedichte die ich hier zusammengestellt habe, sind zwischen 1970 und 1974 geschrieben worden, zu den verschiedensten Anlässen, an den verschiedenen Orten, ob sie gut sind? fragst Du. Es sind Gedichte. Auch alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weitermachen. Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.
Kurz: auch Rolf Dieter Brinkmann hat weitergemacht. Auch in Westwärts 1&2 hat er gesammelt, geschrieben, assoziert, gereimt, gespielt, gefaselt, gelabert, gedichtet. Er hat Versändliches und Unverständliches verständlich und unverständlich aneinander montiert. Formales, Zitiertes, Banales, Philosophisches, Provozierendes, Perverses, Geschmackloses, Poetisches, Hässliches, Schönes. Er hat mit klassischen Stilmitteln gespielt oder die Regeln auf den Kopf gestellt. Es hat an die Verfahren seines Frühwerks angeknüpft und vieles radikalisiert. Das kann so klingen:

Hier steht ein Gedicht ohne einen Helden.
In diesem Gedicht gibts keine Bäume. Kein Zimmer
zum Hineingehen und Schlafen ist hier in dem
Gedicht. Keine Farbe kannst du in diesem

Gedicht hier sehen. Keine Gefühle sind
in dem Gedicht. Nichts ist in diesem Gedicht
hier zum Anfassen. Es gibt keine Gerüche hier in
diesem Gedicht …

Und sich über drei Seiten hinziehen, bis es heißt:

… fehlt in dem Gedicht hier. Es ist nicht Montag,
Samstag und Sonntag in dem Gedicht. Das Gedicht
hier ist nicht die Verneinung von Montag oder
Donnerstag. Das Gedicht hört hier einfach auf.

Oder auch so:

EINEN JENER KLASSISCHEN

schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe

ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment

Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,

die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

Mein Fazit: lesen! Auch wenn einige Texte schwer genießbar sind. Sich an Brinkmann abzuarbeiten, kann auch für Skeptiker erhellend sein. Selbst wenn die Lektüre nur zu der Erkenntnis führt, dass das, was in den späten Sechzigern und Anfang der Siebziger als Popliteratur bezeichnet wurde, meist wenig zu tun hat mit dem, was Ende der Neunziger als Popliteratur erstaunlich populär wurde  immerhin ein sowohl literaturhistorisch als auch literatursoziologisch hochgradig interessantes Faktum.
Fans und Insidern sage ich mit alledem natürlich nichts Neues. Aber die wissen ja ohnehin, worauf sie sich bei diesem Autor einlassen. Ob ich ein Fan bin? Schwer zu sagen

Markus Kuhn
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005. Gebunden, 360 Seiten (dazu Fotos des Autors), 29,90 Euro. ISBN 3-498-00528-6

25.09.2005