Anläßlich des Todes von Rudolf Moshammer
Rudolf Moshammer sei, so hieß es in fast allen Nachrufen unmittelbar nach der Meldung von seiner Ermordung, einer der schillerndsten Figuren der ‚Münchener Schickeria‘ gewesen. Keine Frage, schillernd war er gewiss und er gehörte zu München, wie der Süße Senf zur Weißwurst. Aber wer oder was war denn nun noch einmal die „Schickeria“? Aus traurigem aktuellen Anlaß seien den Älteren noch einmal zur Erinnerung, den Jüngeren zur Erklärung die phänomenalen Besonderheiten der ‚Schickeria‘ aufgezählt.
Jeder weiß, wer dazu gehört. Wo sie sich trifft, ist stadtbekannt. Überall sieht, hört und schnuppert man sie. Stets ist sie eingehüllt in feinsten duftenden Essenzen aus den nobelsten Parfümerien. Wo sie duftet, ist die Provinz weit und die Welt nah. Keine Gruppe der ortsansässgen Bevölkerung steht so sehr im Scheinwerferlicht der lokalen und überregionalen Klatschpresse wie sie. Rund um die Uhr wird sie beobachtet, selten beklatscht, fast immer bespöttelt oder beschimpft. Jeder kennt sie. Keiner will dazugehören. Jeder geht auf Distanz zu ihr, aber ehrlich gesagt, was wäre München, was wären wir ohne sie?! Keine Frage, das Gespräch über sie ist allgegenwärtig, aber wer kennt sie denn schon wirklich, die so viel zitierte und gescholtene Schickeria, deren deutsches Epizentrum sich angeblich in München befindet.
Trotz unermüdlicher Recherchen Hunderter von Gesellschaftsjournalisten beherrschen immer noch nur Spekulationen, Gerüchte und Halbwahrheiten die öffentlichen Debatten und den privaten Klatsch. Vielleicht existiert sie ja gar nicht mehr. Es mangelt für diese gesellschaftliche Phantomgruppe einfach an seriösen empirischen Untersuchungen. Ohne eine entsprechende öffentliche Förderung werden auch weiterhin die Spekulationen über die Schickeria ins Kraut, weniger populär, in den Lachskaviar schießen.
Gibt es überhaupt ‚die‘ Schickeria als eine soziologisch genauer eingrenzbare Gruppe? So paradox es klingen mag, von der Schickeria als einem halbwegs brauchbaren Begriff kann nur gesprochen werden, wenn von der Existenz vieler Schickerien ausgegangen wird. So gibt es etwa eine ‚Museumsschickeria‘, die anläßlich von Ausstellungseröffnungen immer wieder neue Sympathisanten ködert. Diese Gruppe gehört zu den besonders mobilen Fraktionen der Gesamtschickeria, da irgendwo im Land immer ein wahnsinnig spannende Ausstellung abgehakt werden mußte. Nicht vergessen werden darf natürlich die ‚Theaterschickeria‘, über die viele Autoren und Theaterkritiker immer so schimpfen. Es gibt eine ‚Galerienschickeria‘ und an einigen Universitäten soll auch schon gelegentlich eine ‚Wissenschaftsschickeria‘ gesichtet worden sein. Schon als klassisch ist die ‚Film-Funk-Fernseh-Schickeria‘ zu bezeichnen, die den diversen Schickeria-Neugründungen der letzten Jahrzehnte stets als Vorbild diente.
Zeithistorisch verblüffend ist für viele Beobachter des politisch-kulturellen Ober- und Halbweltgeschehens eine in den siebziger und achtziger Jahren auffallend werdende Parallelität zwischen einer Bürgerinitiative und einer Schickeria. Für die Mitglieder eines grundsoliden Zusammenschlusses von Naturschützern mag dieser Vergleich vielleicht empörend sein, aber ein Zeitgeistforscher ist der Wahrheit verpflichtet und kann keine Rücksicht nehmen auf persönliche Empfindlichkeiten. In beiden Fällen existieren keine festen Strukturen. Es gibt keine geregelten Zugangs- und Austrittsrituale, die Mitglieder dieser beiden zeitlich eher unbestimmten Zusammenschlüsse definieren sich stark über nach außen gerichtete Symbole. Was den Einen ihr Anti-AKW-Button war den Anderen ihr Armani-Emblem. Warben die Einen auf ihrem Jutebeutel für Pflanzenkosmetika auf ökologischer Basis, machten die Anderen mit eleganten Tragetaschen Promotion für Body-Lotion und Shoes from Italy. Mitglieder einer Schickeria haben sich aber, im Gegensatz zu den Bürgerinitiativen, niemals an Straßenblockaden beteiligt, um gegen nicht genehme politische Entscheidungen zu protestieren. Stattdessen suchte man lieber seine Interessen mit Vertretern von Staat und Verwaltung in Gourmet-Lokalen auszuschlemmen. Das ist immer legal und genußreich, erspart Ärger mit der Polizei – kostet aber auch mehr. Mit dem Rückgang von Aktivitäten diverser Bürgerinitiativen scheint aber diese Analogie heute ihre gesellschaftliche Grundlage verloren zu haben. Die Anzeichen mehren sich aber, dass die neue rot-grüne Bundesregierung, in der auch einige Alt-Aktivisten aus den Bürgerinitiativen der siebziger Jahren vertreten sind, von der Münchener Schickeria beeinflusst zu sein scheint. Im äußeren Erscheinungsbild insbesondere der grünen Minister erkennt der geübte Schickerologe sofort einige modische Accessoires, die ihm von verschiedenen Abendgesellschaften an der Maximilianstrasse, der Theatinerstrasse oder aus Grünwald bekannt sind. Allerdings sind die in Bonn respektive Berlin heute scheinbar modischen Dreiteiler in München längst nicht mehr en vogue. Aber diese modische Ungleichzeitigkeit herrschte bereits in der Bonner Republik unter Konrad Adenauer, wie uns vielleicht ältere Journalisten heute bestätigen können.
Sozialgeschichtlich finden sich in der Schickeria Elemente aus allen Gesellschaftsformationen seit der Feudalzeit. Sie treten aber immer nur als Kopie, als Karikatur oder als Ruine historischer Vorbilder der Höfe und Paläste in Erscheinung. Soziologisch ist die Schickeria irgendwo in der Knautschzone zwischen Groß- und Kleinbürgertum anzusiedeln. An den unteren sozialen Rändern gibt es auch fließende Übergänge zu den nach oben hin drängenden Teilen aus den Milieus frustrierter Bankangestellter und der urbanen Boheme. Hier ist immer schon und sind immer noch besondere Schwächen für Glitter, Glanz und Gloria vorhanden. In der ‚Traditionsschickeria‘ finden wir bevorzugt jene renditeverzehrenden Mitglieder des Handelskapitals, in deren Schatten jede Menge Parvenüs und Bonvivants das Leben zu genießen wissen. Das Industriekapital ist kaum noch in der neueren Schickeria vertreten, dafür halten aber die wenigen Ausnahmen ganze Schickeria-Kohorten über Wasser, pardon, über Champagner.
In den Kreisen der heutigen ‚postmodernen Schickeria‘ finden wir hingegen viele Nachkömmlinge aus angesehen Häusern des produktiven Kapitals, die mit der protestantischen Ethik ihrer Väter nichts mehr am Hut bzw. am Golfschläger haben. Die traditionelle Schickeria fand, nein, sie suchte sogar stets die besondere Aufmerksamkeit in der Berichterstattung der Massenmedien. Die heutige postmoderne Schickeria hat hingegen eine tiefsitzende Skepsis gegen die Berichterstattung in den Medien. Allenfalls der eine oder andere Journalist von dem einen oder anderen privaten Fernsehsender wird in diesen Kreisen noch als Ansprechpartner akzeptiert. In der postmoderne Schickeria ist ganz besonders das Handel- Banken- und Versicherungsgewerbe vertreten, dessen Wissen um die richtigen finanziellen Transaktionen innerhalb der oft maroden eigenen Freundeskreise von großer Bedeutung sind.
Literaten und Verleger, die in der alten Schickeria noch als kulturelle Entertainer gerne gesehen wurden, wird in der postmoderne Schickeria kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt. Das geschriebene Wort ist out. Digitale Sprechfunkfabrikanten, Handy-Ex- und Importeure und Autotelephondesigner beherrschen heute die Szene. Tummelten sich in der Traditionsschickeria noch echte Aristokraten und Baronessen, so treffen wir in der postmoderne Schickeria allenfalls noch auf Plagiatadel, für den Fürst Metternich nur mehr das Etikett eines Billigsektes bedeutet. Die traditionelle Schickeria erholte sich von den aufregenden Jagden rund um das Hummerbüffet noch konservativ nur auf dem Alten Kontinent – Davos, St. Moritz oder Capri.
Die heutige postmoderne Schickeria befindet sich hingegen im ständigen Fly-Off zwischen sämtlichen fünf Erdteilen. Barbados, Butan und Bali stehen gegenwärtig ganz oben im Kurs.
Bevor wir uns in zu starken Unterscheidungen verlieren, versuchen wir an dieser Stelle einmal eine erste Definition von Schickeria: die Schickeria ist ein sehr schwer eingrenzbarer, informeller Zusammenschluß von mutmaßlich vermögenden, vermögend erscheinenden oder tatsächlich sogar vermögend seienden gesellschaftlichen Gruppen, die in einem außerordentlich engen Kontakt miteinander stehen, aber gar nicht wissen, das andere sie ‚Schickeria‘ nennen. In dieser Beziehung existieren wiederum Parallelen zur benachbarten Mafia. So wie sich niemand jemals als ein Mafioso bezeichnen würde, gab es auch niemanden der sich als ein überzeugtes Mitglied einer Schickeria verstand. Diese Zuordnung erfolgte grundsätzlich nur von Außenstehenden (Journalisten, Pietisten, neidischen Ex-Freunden, notorischen Geschäftsschädigern, Misanthropen usw.).
Die Mafia und die Schickeria glaubt jeder zu kennen, aber niemand weiß, wer eigentlich genau dazugehört. Wer einmal zu einem Schickeria-Mitglied erklärt wurde, verliert damit sogar grundlegende bürgerliche Rechte. Er konnte sich gegen diese öffentliche Klassifizierung in keiner Weise (z.B. durch eine Verleumdungsklage oder einem anderen Rechtsweg) wehren. Wie soll er auch beweisen, kein Mitglied der schicken Gesellschaft zu sein?
Es ist in der Tat schwierig zu bestimmen, wann denn nun jemand zur Schickeria gehört. Zuordnungen die z.B. aus dem Besitz einer Fabrik einen Kapitalisten machen, aus der Zustimmung zum Kommunistischen Manifest einen Kommunisten oder durch den Glauben an die Jungfrauengeburt Mariens einen frommen Katholiken, existieren bei der Schickeria nicht. Die Zugehörigkeit kann auch nicht durch schulische Prüfungen erworben werden. Auch der Besitz von Geld alleine eröffnete noch keinen Zugang. Bei den wirklich Reichen ist die Schickeria sogar geradezu verpönt. Ja, es reicht noch nicht einmal, sich selbst als chic zu beurteilen, um dazuzugehören. Allerdings sind bestimmte äußere Symbole als Entree für die Schickeria unumgänglich. So ist es unwahrscheinlich, daß ein Freund derber Wollsocken und gesunder Kräutertees jemals als Mitglied einer Schickeria angesehen wird. Das kann man sich nur leisten, wenn man bereits einen Schickeria-Stammbaum besaß.
Um als Mitlied einer Schickeria angesehen zu werden, mußte der oder diejenige bereit sein, über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig die gleichen Orte einer Stadt aufzusuchen, die ein Maximum an Aufmerksamkeit versprechen. Wichtig ist es, bei diesen Auftritten auch sein äußeres Erscheinungsbild, das berühmte Outfit, ständig unter Beibehaltung einer eigenen Note zu variieren. Feste, Bälle, Vernissagen und sonstige Events dürfen unter keinen Umständen versäumt werden. Die perfekte Beherrschung der Bussi-Zeremonie gehört zu den Grundqualifikationen jedes Schickeria-Mitgliedes. Hierbei handelt es sich um eine von der Münchener Schickeria in jahrzehntelangen Übungen erlernte und an neue Generationen weitergegebene Kulturtechnik der zwischenmenschlichen Begrüßung, die aber auch bereits von französischen Forschern beim Stamm der Tupi-Kawahib in den südlichen Amazonas-Wäldern Brasilien beobachtet wurde. Wie dieses Beschnupperungsritual allerdings vom Amazonas an die Isar gelangte, ist in der interkulturellen Begrüßungsforschung bislang noch ein Rätsel.
Wer zur Schickeria gehören will, kann sich davon keineswegs ein leichtes Leben versprechen. Der Wettbewerb um die Plätze rund um die Champagnerkübel und Kaviarhügel ist hart und finanziell ruinös. Seit Generationen gehortetes Familienvermögen kann mit einer einzigen Lokalrunde verpraßt werden. Beachtet zu werden ist unter dem großen Konkurrenzdruck der Vernissagen, Theaterfoyers, Restaurants und Museumscafés ein anstrengendes Unternehmen. Jedes Detail, jede Frisur, jedes Schmuckstück, ja fast jede Wimper muß aufeinander abgestimmt sein. Zu grell aufgetragenes Rouge, ein zu aufdringliches Parfüm – und schon befindet man sich auf den verwelkten Zweigen einer Schickeria. Zwischen chic und choc liegt oft eine feine Strumpfmasche. Es dauert dann lange, bis man sich wieder in die Beletage der Schickeria heraufgestylt hat.
So verschieden die Zugänge zu einer Schickeria sind, so unterschiedlich sind auch die Abgänge aus ihr. In den großen Städten wachte ein Heer von Boulevardjournalisten über den Zugangsschlüssel zu der halbseidenen Gesellschaft.
Im Normalfall einer mittelstädtischen Schickeria ist es nicht selten der Gerichtsvollzieher, der dem Leben in Saus und Braus ein bitteres Ende bereitet. Neben dem gänzlichen Ausscheiden aus einer Schickeria durch Tod (am besten im Porsche mit offenem Coupé auf der Autobahn Richtung Davos oder in die Toskana), allgemeiner Lustmüdigkeit oder eben dem lächerlichen Offenbarungseid, existiert auch die Möglichkeit des vorübergehenden Ausscheidens. So wurde jemand, der sich in den siebziger Jahren als glühender Fan der fünfziger Jahre zu erkennen gab, aus einer Schickeria gnadenlos ausgegrenzt. In den folgenden Jahren hingegen wurde das Bekenntnis zum fünfziger Jahre Stil eher begrüßt. Es ist noch nicht lange her, daß jedermann und jedefrau, die in einem Small-Talk Sympathien für grüne Ideen geäußert hätte, in jeder Schickeria ins Abseits geriet. Seitdem sich jedoch in der ‚rot-grünen Szene‘ die dunklen Dreiteiler durchgesetzt haben, scheint hier eine deutliche gegenseitige Entkrampfung eingetreten zu sein. Etwa ab Mitte der achtziger Jahre fand jemand, der für Schildkrötensuppen und Froschschenkel schwärmte selbst in den härtesten Fraktionen der Schickeria kein Verständnis mehr. Dieser schwindende Gruppenkonsens in Geschmacksfragen in den siebziger Jahren, die verheerenden Folgen eines extremen Lifestyle-Individualismus in den achtziger Jahren und die wirtschaftliche Krise etwa ab Anfang der neunziger Jahre hat die alte Schickeria schwer getroffen. Ihr langsames Verschwinden scheint niemanden besonders aufzufallen. Diese Unaufmerksamkeit ist nicht zu bedauern, aber trotzdem ist sie es wert, einmal wenigstens registriert zu werden. Mit zunehmender Misere in den öffentlichen Haushalten, spürbarer Verarmung in den Städten und Firmenzusammenbrüchen in allen Sektoren der Privatwirtschaft droht auch eine Bevölkerungsgruppe an den Rand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu geraten, der dies – außer den Betroffenen – jeder wünscht. Es mehren sich die Anzeichen, daß auch die viel geschmähte Schickeria von der allgemeinen gesellschaftlichen Krise viel stärker betroffen ist, als es sich ihre informellen Mitglieder, Freunde, Sponsoren und Schnorrer selbst eingestehen wollen.Auch in den halb- und vollseidenen Kreisen der freien Marktwirtschaft finden gegenwärtig Veränderungen statt, deren Folgen noch gar nicht absehbar sind. Die alte Schickeria jedenfalls hat keine Zukunft mehr. An ihre Stelle treten immer armseligere Kreise von Anlageberatungsillusionisten, Vorabendserienkomparsen und Selbstdarstellungskleinkünstlern, die von den lärmenden Gruppen-Inszenierungen der alten Schickeria nichts mehr wissen wollen. Die Ära der bürgerlichen Exhibitionisten und aristokratischen Bonvivants neigt sich an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend spürbar ihrem Ende zu. Es wird deshalb allmählich Zeit, ihnen einen letzten Nachruf zu widmen.
Was heute noch zur Schickeria gezählt wird, ist nichts als das Geröll einer glänzenden Vergangenheit. Mit jenen schillernden Phänomenen aus den wirtschaftswunderlichen Zeiten unserer Republik hat der heutige Neu-Reichtum nichts mehr gemein. Der Schickeria der Schönen und Exzentriker gehörte noch unser Spott, unsere Neugierde, manchmal auch unser geheime Neid. Die heutigen aufgefönten Immobilienmakler, patriotischen Ost-Investoren und vorgealterten Fitness-Studio-Pächter sind nur noch langweilig. Die große Zeit des Scheins ist ein für allemal vorbei. Heute zählen nur noch Scheine. Man beginnt, sich mit Wehmut an die alte Schickeria zu erinnern und den Tod von Rudolf Moshammer nicht nur mit dem gebotenen Respekt, sondern auch mit Trauer zur Kenntnis zu nehmen.
Carl Wilhelm Macke