Märchenstunde vom Feinsten
– Kallwass for Bundeskanzlerin – und schon herrscht Frieden, Einigkeit und soziale Gerechtigkeit. Niemand hat mehr ein Burn out, alle reden über ihre Probleme und stoßen generell auf Verständnis, gehen sorgsam mit ihren Mitmenschen um und erziehen ihre Kinder voller Liebe und Rücksicht. Henrike Heiland über die liberale Kummerkastentante des deutschen Fernsehens.
Die Ausgangssituation: Leute kommen auf der Suche nach psychologischer Beratung zu Angelika Kallwass. In ihrer Praxis gibt es einen Empfang (da sitzt dann ein schicker, junger Assistent), gleichzeitig ist dieser Bereich auch so eine Art Wartezimmer. Es gibt noch einen Raum, in dem man mit Frau Kallwass unter vier Augen reden kann. Bis hierhin ist noch alles gut. Aber es gibt noch – ein Studio mit zwei Stehpulten. Zwei, weil es meist zwei Leute sind, die Probleme miteinander haben, aber aus den zwei Leuten werden dann gerne mal ganze Familien, also sagen wir lieber: zwei Positionen, die sich gegenüberstehen. Frau Kallwass steht vor ihnen, früher auch mit eigenem Stehpult, aber das fiel wohl während eines Praxisumbaus der Modernisierung zum Opfer, um die Barriere zwischen Therapeut und Patient nicht noch größer zu machen. Oder so.
Das Absurde kommt jetzt: Die zwei Parteien haben ein Publikum im Rücken. In diesem Studiobereich sitzen Leute. Immer. Frau Kallwass kann draußen einsam mit ihrem Assistenten rumstehen und darüber diskutieren, ob sie jetzt Mittagspause machen, jemand kommt überraschend rein, braucht Hilfe, man geht ins Studio – und da wartet schon ein klatschendes Publikum. Frau Kallwass sitzt im Büro, berät sich mit ihrem Assistenten über den Terminplan der nächsten Woche, jemand ruft an, ist gerade zufällig in der Nähe, kommt vorbei – und das Publikum ist bereit. Dann werden Geheimnisse ausgebreitet, intime Details diskutiert, die gewisse Personen niemals erfahren dürfen. Das Publikum lauscht gespannt.
Und ach, das dürfen wir auch nicht vergessen: Alles wird aufgezeichnet. Nicht so ein „Wir tun mal so, als gäbe es keine Fernsehkameras in jedem Raum“-Aufzeichnen, sondern ein „Wir tun mal so, als gäbe es keine Fernsehkameras, haben aber alles auf Video, für den Fall, dass wir uns noch mal die Reaktion von Person A zusammen mit Person B anschauen müssen“. Konkret also: Person B behauptet: Mama hat mich ja nie geliebt. Frau Kallwass ruft: Aber das stimmt nicht, vorhin sagte ihre Mutter, als sie reinkam, wie sehr sie Sie liebt, schauen wir uns das doch mal gemeinsam auf der Leinwand an! Na gut, es kommt nicht oft vor, aber es kommt vor. Kurz gesagt: Da soll die Sat.1-Zuschauerin am Nachmittag also glauben, hilfebedürftige Menschen, die ihren einzigen Ausweg darin sehen, sich mit ihren Geheimnissen einer Therapeutin anzuvertrauen, rennen in ein Studio, das permanent kameraüberwacht ist und in dem sich von morgens bis abends ein applausbereites Publikum befindet. Wie gut, dass sie im Videotext von einer „Pseudorealityshow“ schreiben, und wie gut, dass im anderthalbsekündigen Abspann ganz winzig etwas von nachgestellten Fällen steht.
Trotzdem ist das alles ein bisschen albern. Und wenn die Laiendarstellerinnen anfangen zu heulen (es ist erstaunlich, wie viele Frauen ohne Schauspielausbildung auf Kommando heulen können, man wird ganz misstrauisch, wenn man das sieht), soll doch die Zuschauerin zu Hause auch mit der Hand nach der Küchenrolle tasten, statt sich zu fragen: Was machen diese ganzen Leute im Publikum, und werden die dafür bezahlt oder kann man da etwa Karten für gewinnen? (Das sind übrigens wirklich die Fragen, die die Menschen bewegen. Kann man in allen möglichen Foren nachlesen.)
Soviel zur Ausgangssituation des Formats, das am 5. November seit zehn Jahren diesen immer gleichen Sendeplatz auf Sat.1 hat: werktags nachmittags um 14 Uhr. Man hätte Frau Kallwass abgesetzt, hätte die Quote nicht gestimmt. Zehn Jahre sind im Privatfernsehen eine biblische Zeit, könnte man sagen. In dieser Ära hat Angelika Kallwass auch schon so einige Assistenten verschlissen. Die werden übrigens gerne sehr häufig gegoogelt in Verbindung mit dem Wort „Freundin“. Die Zuschauerinnen wollen wissen, ob es sich lohnt, sich in die verständnisvollen jungen Männer zu verlieben. Und immer wieder finden sich Menschen, die sich unsterblich in eine/n der Laiendarsteller/innen verliebt haben und nun wissen wollen, wie sie am besten Kontakt aufnehmen. Ja, die TV Foren (zum Kallwass-Forum) sind eine ganz eigene kleine Welt.
Über allem aber steht Frau Kallwass. Sie nimmt sich jedem Thema an: Abtreibung, Vergewaltigung, Behinderung, Impotenz, Arbeitslosigkeit, sterbende Mütter, schlagende Väter, offene Beziehungen, Sex am Arbeitsplatz, Mobbing in der Schule, Teenagermütter, Depressionen, bipolare Störungen, Ritzen, verliebte Stiefgeschwister, Patchworkfamilien. Alles ist Thema, nichts gibt es, worüber sich Frau Kallwass in den letzten zehn Jahren noch nicht unterhalten hätte. Sie spürt die Probleme der Betroffenen auf, auch wenn sie gar nicht darüber reden wollen. Sie zerrt die eigentlichen Themen ans Licht, obwohl die Patienten denken, es ginge um etwas ganz anderes. Angelika Kallwass entlarvt Übeltäter und gibt Verzweifelten Ruhe. Niemand, der bei ihr keine Hilfe findet. Keiner, der ratlos nach Hause geht. Psychotherapeuten und Analytiker sind nicht nur die Hohepriester und Gurus des 20. Jahrhunderts, sie werden es wohl noch eine Weile bleiben. Kallwass for Bundeskanzlerin, und schon herrscht Frieden, Einigkeit und soziale Gerechtigkeit. Niemand hat mehr ein Burn out, alle reden über ihre Probleme und stoßen generell auf Verständnis, gehen sorgsam mit ihren Mitmenschen um und erziehen ihre Kinder voller Liebe und Rücksicht.
Natürlich ist es eine kleine bunte Märchenwelt, wenn verkrustete Familienstrukturen nach nur 43 Minuten Nettosendezeit aufbrechen und sich alle in den Armen liegen. Das versucht dann, die Texttafel am Ende, vorgelesen vom immer gleichen Off-Sprecher, aufzufangen. Da wird gesagt, dass alle schön brav ihre Therapie machen und sich jetzt besser fühlen. Und dass sie sich auch an die Ratschläge gehalten haben. Und überhaupt wird man darin beruhigt, dass alles gut wird.
Angelika Kallwass präsentiert Märchenstunde vom Feinsten. Sie hängt sich natürlich viel mehr rein, als es normale Therapeuten können oder auch dürfen. Gleichzeitig wahrt sie doch noch Distanz und hat immer den Blick für die scharfsinnige Analyse. Genau wie früher bei den Märchen weiß man, egal, wie tief die Abgründe sind, am Ende geht man doch mit einem guten Gefühl raus und kann ruhig schlafen. Frau Kallwass hat die Welt gerettet, und eine Patchworkfamilie noch dazu.
Sie hat auch tatsächlich die richtige Ausstrahlung und Medienpräsenz für so eine Sendung. Und die Redaktion sucht Themen, die die Nachmittagszuschauerin interessieren dürfte. Gut, die Schlenker, die so Geschichten dann mal machen, sind nicht allgemeingültig, wie das ein Lehrbuch oder Ratgeberliteratur wäre. „Ich war früher beim Escortservice und muss es meinem Freund sagen“ wird speziell durch „Ach ja, und ich habe in der Zeit mit seinem Vater geschlafen.“ Oder „Mein Freund will, dass ich mein Kind abtreibe, weil es behindert zur Welt kommt“ wird zu einer eigenen Geschichte durch „Sein Onkel war nämlich auch behindert, und das war ja so schwierig.“ Trotzdem schwappt die Grundaussage am Ende doch irgendwie rüber: Alles ist machbar, überall bekommt man Hilfe. Man muss nur drüber reden. Und das ist, ehrlich gesagt, gar nicht mal so schlecht als Ansatz.
Es könnte nämlich auch ganz anders laufen. Angelika Kallwass könnte nach US-amerikanischem Vorbild Abtreibungen grundsätzlich verurteilen. Homosexualität als Krankheit bezeichnen. Frauen sagen, sie müssen nun mal bei ihren Männern bleiben, die sie schlagen, weil das zu einer Ehe dazugehört. Was nicht noch alles.
Aber der Sender lässt sie liberal sein, mit Sicherheit vorurteilsfreier und toleranter als die meisten im Publikum.
Früher gab es in den Zeitungen die Kummerkastentante, und die BRAVO hat immer noch das Dr. Sommer-Team, um auf Ängste, Sorgen und Nöte zu reagieren, über die man lieber mit Fremden spricht als mit den besten Freunden oder der Familie. Kallwass ist die TV-Variante davon, nur dass es keine Frontalberatung ist, sondern die Geschichten durchgespielt werden. Oft albern, wirklich. Die Darsteller stolpern über ihre Metaphern, Namen werden verwechselt, Handyvideos tauchen auf, bei denen für immer unklar bleiben wird, wer die jetzt wohl gedreht haben mag, und für manche Themen wird dann eben der Holzhammer rausgeholt.
Trotzdem, nicht das dümmste Format, sinnvoller als beispielsweise die Supernanny. Frau Kallwass würde sofort dazwischengehen, wenn Mudder Müller den kreischenden Jason verprügelt. Die sozialen Stereotype werden lange nicht so überstrapaziert und lächerlich gemacht wie in den folgenden Gerichtsshows. Doch, Kallwass in die Prime Time, sie soll auch noch gleich die Schuldenfalle und die Stilberatung machen und den Bauern die Frauen suchen.
Aber warum Publikum im Studio sitzen muss, wenn die verzweifelte Pubertistin gesteht, dass sie nur deshalb mit so vielen Jungs im Bett war, weil sie nicht weiß, ob sie vielleicht lesbisch ist, bleibt wohl Angelika Kallwass‘ Geheimnis.
Henrike Heiland
Zwei bei Kallwas. Wochentäglich 14:00 Uhr bei sat1. Zur Homepage der Sendung.