Geschrieben am 11. Juli 2012 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Aus Literaturzeitschriften

Interessante Literaturzeitschriften gibt es viele – „Am Erker“-Redakteur Andreas Heckmann sorgt dafür, dass wir den Überblick behalten; er berichtet regelmäßig über spannende Hefte. Diesmal: SpritZ, Edit, Neue Rundschau, Signum, poet und BELLA triste.

SpritZ 201

SpritZ 201 stellt die Teilnehmer der LCB-Autorenwerkstatt Prosa 2011 vor. Erfreulich, dass Lin Franke, Absolventin des Hildesheimer Schreibstudiums, zu den Auserwählten gehörte, irritierend aber, dass ihr Beitrag nur eine geringfügig überarbeitete Fassung dessen ist, was sie im Frühjahr 2011 in BELLA triste 29 veröffentlichen konnte. Gab es im Herbst darauf in der Werkstatt so wenig zu lernen? Oder so viel, dass ihr alles andere nicht publikationswürdig erschien? An zwei so prominenten Orten kurz nacheinander einen über weite Strecken identischen Text erscheinen zu lassen, sollte jedenfalls nicht Schule machen – auch deshalb nicht, weil der so verschwendete Platz anderen Autoren abgeht, hier vor allem Enrico Dietrich, in dessen sprachgewaltiger und visionärer Prosa die Denkzwänge der Arbeitslosigkeit, die Versehrungen des Braunkohlentagebaus in der Niederlausitz und der Tod der Großmutter in gestochenen Tableaus aufscheinen, deren Obsessivität an Wolfgang Hilbig und Einar Schleef denken lässt, ohne Dietrich zum Epigonen zu stempeln.

Das SpritZ-Sonderheft „Abschied zuerst“ versammelt fünf Stipendiatendoppel zu Berichten über das je einmal in Riga, Sofia, Skopje, Pula, Paris/Istanbul und fünfmal in Berlin Erlebte. Aus diesem Kompendium der Impressionen ragt Steffen Popps Schilderung seines Aufenthalts im lettischen Riga heraus. Eigentlich hatte Popp andere Reisewünsche und Pläne, doch seine Bewerbungen verliefen allesamt im Sande, und nun findet er sich lustlos in einer Stipendiatenwohnung an der Peripherie der Stadt, den lettischen wie russischen Bewohnern gleichermaßen fremd, mit dem Verbrennen von Gartenabfällen beschäftigt, dem Mundgeruch eines aufdringlichen Nachbarn ausgesetzt. Schön wenigstens, einem uralten Überbleibsel aus baltischem Landadel deutsche Literatur vorlesen zu dürfen. Und der Himmel ist auch nett. „Ich hatte von Lettland nichts gesehen, doch immerhin zweimal das Gefühl gehabt, dieser Kultur auf den Grund zu schauen. Mehr war nicht drin gewesen, und mehr musste, offen gesagt, auch nicht sein“ – befreiende Schlussworte eines klugen, wohlfeile Empathie verweigernden Textes, dessen Autor bei der Landung in Berlin vermutlich einen erleichterten Stoßseufzer tat.

Sprache im technischen Zeitalter (SpritZ) 201. 14,00 Euro. Mehr hier.
SpritZ-Sonderheft 2011: Abschied zuerst. 9,80 Euro.

Edit 58

Andreas Martin Widmann, Teilnehmer der LCB-Autorenwerkstatt 2009, hat im März mit „Die Glücksparade“ eines der überzeugendsten deutschen Romandebüts seit Georg Kleins „Libidissi“ vorgelegt, eine Coming-of-Age-Geschichte auf einem Rheininsel-Campingplatz, bei der genaueste Beobachtung, gebremsteste Empathie und sprachliche Askese zu einer tieftraurigen Geschichte zusammenfinden, die in der Verweigerung jeder Gefühligkeit enorme Wucht entfaltet. Selten dürfte amerikanische Erzählkunst der deutschen Literatur so überzeugend anverwandelt worden sein. Dass Widmann nicht nur ein großartiger Autor, sondern auch ein beschlagener Literaturwissenschaftler ist, stellt seine komparatistische Dissertation „Kontrafaktische Geschichtsdarstellung“ unter Beweis. In Edit 58 hat er die Ergebnisse dieser Arbeit in dem charmanten Beitrag „Wie Lenin den Fall der Berliner Mauer verhinderte“ zusammengefasst, der ihn nun obendrein als originell und blitzgescheit plaudernden Essayisten wahrzunehmen erlaubt.

Edit 58. 5,00 Euro. Mehr hier.

Neue Rundschau 122/4

In Heft 122/4 der Neuen Rundschau berichtet Luke Williams, wie er sich mit seinem literarischen Projekt festgefressen hat, dann aber W.G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“ und dessen übrige Werke entdeckt, „Beispiele für jene Art von Buch, die ich schreiben wollte, eine, die die radikalen Einsichten der literarischen Moderne enthielt, von diesen Einsichten gezeichnet war und den Leser trotzdem emotional berührte.“ Ehe er dann bei Sebald an der University of East Anglia einen Creative Writing-Kurs absolviert und darüber eifrig Protokoll führt (das zu lesen nicht immer instruktiv ist), besucht er in London eine Lesung aus dem Roman „Austerlitz“ und fährt mit dem Autor im gleichen Zug nach Norwich. Das Hin- und Hergerissensein zwischen dem Wunsch, Sebald anzusprechen und sich als Leser, Bewunderer und baldiger Schüler zu erkennen zu geben, und dem Wunsch, in der Deckung zu bleiben und die Schmerzlust schmachtender Beobachtung auszukosten, ist genau, reflektiert und gebrochen beschrieben, erfüllt also viele Forderungen, die Sebald in seinem Schreibkurs aufstellt. Indem Williams seinen toten Lehrer idolisiert, im Zuge dieser Idolisierung dessen Erwartungen an Literatur aber gleichsam übererfüllt, betreibt er literarischen Vatermord an einem tödlich Verunglückten – eine abgründige Ambivalenz, wie sie für das sich abzeichnende Genre der posthumen Sebald-Lobrede womöglich strukturbildend ist.

Neue Rundschau 122/4: Beyond Brooklyn. 192 Seiten. 12,00 Euro. Mehr hier.

Signum

Die Dresdner Zeitschrift Signum ist kein Tummelplatz für junge Talente, eher Reservat ergrauter oder ergrauender Autoren, von denen nicht alle deutschlandweit bekannt sind. Doch wie wohltuend, wenn unberühmte, aber formbewusste Schriftsteller der 30er- und 40er-Jahrgänge makellose, dabei melancholisch tingierte Erinnerungsprosa schreiben, die sich vor Gefühlig-Sentimentalem souverän hütet. Mustergültig die Evokationen der 1945 geborenen Lektorin Annegret Herzberg, die 1955 aus Leipzig nach Dresden zog und den alten Zauber aufs Schönste einfängt. Oder Heinrich Oppermanns Hiddensee-Impressionen, bei denen der Großvater (*1934 in Ungarn, 1948 nach Sachsen umgesiedelt) mit dem Enkel unterwegs ist und wo es unvermutet heißt: „Der schlagende, leicht holzraspelnde Gesang erinnert mich an den Gesang der Nachtigall im Nussbaum in Großvaters Weingarten, an lauen Sommerabenden im Dreieck zwischen Donau und Drau.“

Signum 13/1. 8,20 Euro.

poet 12

In poet 12 beeindruckt der Schlesier Matthias Nawrat mit „Pan Tadek“, Romanauszügen, in denen der junge, schüchterne, herzkranke Tadeusz durch das beängstigend prosperierende Oppeln streift und Frau Kasia kennen lernt. Nawrats lakonisch abgedimmte, aber erstaunlich berührende Schilderungen stehen unter dem Imperativ: „Tadeusz, du stirbst, also erinnere dich!“

poet literaturmagazin Nr. 12. 9,80 Euro. Mehr hier.   

BELLA triste 31

Stefan Mesch schreibt Literaturkritiken für „Zeit“ und „Tagesspiegel“. Sein Essay „Futter für die Bestie – 528 Wege zum nächsten guten Buch“ in BELLA triste 31 ist dennoch ein Plädoyer für klug vernetzte Schwarmintelligenz. Lesebiografien, so Mesch, konstituieren sich über Vorlieben und über Empfehlungen von Menschen, die als glaubwürdig, sympathisch, kompetent wahrgenommen werden, ob es sich dabei um Oprah Winfrey handelt oder den Professor beim Schreibstudium in Hildesheim. Und es gibt Internet-Plattformen wie goodreads.com, deren Mitglieder die Bücher, so Mesch, erstaunlich treffend bewerten. Dass dort bspw. Sven Regeners „Neue Vahr Süd“ mit 4,00 etwas besser bewertet wird als „Herr Lehmann“ (3,90), geht für ihn in Ordnung. Um seinem Plädoyer für persönliche Empfehlungen Taten folgen zu lassen, fügt Mesch seinem Essay zwei Listen mit je 250 Titeln an – die erste Liste führt empfohlen bekommene, aber noch nicht gelesene Bücher auf, die zweite gelesene und sehr zu empfehlende Bücher.

Andreas Heckmann

BELLA triste 31. 5,35 Euro. Mehr hier.
Diese Zeitschriftenschau ist zuerst in unserem Partnermedium „Am Erker“ erschienen.

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