Leise Weisen
Wer eine Anthologie herausgibt, muss mit einer Menge Gezeter rechnen. Warum sind gerade diese Autoren vertreten? Warum jene Texte? Und überhaupt ist das ganze Buch zu dick / zu dünn / zu elitär / zu Mainstream / zu einseitig usw. Thomas Geiger hat’s trotzdem gewagt…
… und hält höchstwahrscheinlich auch die übliche Antwort auf die kritischen Stimmen bereit: den zufriedenen Blick auf das schöne Buch als Lohn vieler Mühen – und den Plan einer weiteren Anthologie…
Die Sammlung heißt Laute Verse, was doppeldeutig gemeint ist: „Laute“ als Nomen, aber auch als Adjektiv. Das klingt ziemlich angestrengt und weckt auch insofern falsche Erwartungen, als die einzigen lauten Verse des Bandes aus dem Grabe kommen, von Thomas Kling nämlich, der als früh Verstorbener sein durchdringendes Auge auf die 23 lebenden Autoren gerichtet hält, die neben ihm hier vertreten sind und ausnahmslos die leisen Töne bevorzugen. Björn Kuhligk etwa, einer der wenigen, die sich noch aufregen können und die Empörung in ihre Gedichte retten, fehlt.
Der Untertitel der Anthologie verkündet: „Gedichte aus der Gegenwart“, sie erhebt den Anspruch, eine „repräsentative Auswahl“ zeitgenössischer Lyrik zu bieten. Gedacht ist sie für Leser, die der Lyrik wohlwollend, aber etwas unsicher gegenüberstehen und daher gern einem Herausgeber vertrauen, der den Überblick besitzt. Und natürlich kann man nur wünschen, dass solche Leser das Buch entdecken und erwerben, denn es erfüllt die Erwartungen.
Repräsentativ – für wen?
Ebenso natürlich kann man kritisieren (s.o.): Die Auswahl der Dichter, die Beschränkung auf deutsche, nicht: deutschsprachige Autoren usw. Aber das Buch ist bereits ein gewichtiges Paperback – noch mehr Texte hätten es in einen Backstein verwandelt, den sich niemand zumuten würde. Geiger wollte die Verschiedenartigkeit lyrischer Schreibweisen demonstrieren und das ist ihm zweifellos gelungen. Ob allerdings der Begriff „repräsentativ“ überhaupt noch angebracht ist, scheint fraglich, da heute jeder Lyriker vor allem sich selbst repräsentiert und nicht eine wie auch immer definierte Gruppe. Auch in diesem Band ist jeder Text ein Einzelkämpfer um die Resonanz in Hirn und Herz des Lesers, sei dieser nun ein Lyrik-Adept oder –Laie. Und im Vollzug der Lektüre wird auch jeder Rezipient Genuss und Bezauberung oder Langeweile und Unmut ganz unmittelbar und individuell von Text zu Text erfahren. Ein Funke muss überspringen, und das ist niemals garantiert. Der Herausgeber kann allenfalls für einen bestimmten Qualitätsstandard bürgen.
Sahnehäubchen
Jede/r Dichter/in ist mit etwa zehn Texten vertreten, einen davon kommentiert er/sie selbst. Das ist das Sahnehäubchen der Sammlung, die sie auch für Kenner der Lyrikszene interessant macht. Zu sehen, wie sich die unterschiedlichen Temperamente dieser Aufgabe entledigen, ist spannend, oft auch überraschend. Es beginnt mit der trotzig-schlichten Verteidigung von Humor und Lebensfreude bei Henning Ahrens, der ein Geburtstagsbesäufnis besingt, setzt sich fort bei Nora Bossong, die ihr zauberhaftes „Rolandslied“, das zu Recht berühmt wurde, mit einem biographischen Hintergrund versieht, von dem man lieber nichts wüsste, und schwingt sich schließlich zu Sätzen auf wie: „Das Immunsystem ist die Arbeit an der Kohärenz des lebendigen Körpers wie an der Kohärenz seiner Zeiten.“ (Daniel Falb) Ach, ach…
Marcel Beyer hat schon an anderer Stelle im Netz verraten, dass er nichts verraten wollte, erzählt aber aufschlussreich, wo und wie das ebenfalls berühmte und wunderbare „Wespe, komm…“ entstand. Hendrik Jackson demonstriert, wie schwierig es ist, ein Gedicht zum „Stillstand“ zu bringen, während Jan Wagner auf erheiternde Weise beschreibt, wie sein Gedicht im Laufe des Arbeitsprozesses immer kürzer wurde und der abgedruckte Text sozusagen die letzte Stufe vor dem Verschwinden darstellt. Alle Eigendeutungen sind interessant, alle sagen viel aus über das Selbst- und Poesieverständnis des Autors / der Autorin und bezeugen, wie farbig und differenziert das lyrische Panorama der Gegenwart ist.
Fazit: Ein Cicerone für Einsteiger, dazu 24 Blicke in die Werkstatt und, als Highlight, 24 konzentrierte Charakterstudien. Schon eine Menge Stoff für 14,90 ¤. Also zugreifen! Und die Einwände kann man dem Herausgeber ja hinterher immer noch mailen…
Gisela Trahms
Thomas Geiger (Hrsg.): Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart. Kartoniert.
München: dtv premium 2009. 360 Seiten. 14,90 Euro.