Tim und Toms Expedition zum Nullpunkt:
Genauso wie Tim und Struppi ist der Appeal von deren Abenteuern nicht totzukriegen, zeitlos. Tom McCarthy – Künstler und Romancier – hat die Bilder gelesen, den Text betrachtet. Mit dem Rüstzeug französischer Strukturalisten ist der Engländer McCarthy den Tricks und Winkelzügen des belgischen Hergé auf die Schliche gekommen … findet Matthias Penzel.
Im hiesigenFeuilleton hat man sie irgendwann auch entdeckt: die Einsicht, dass Kultur nicht nur bei Theaterpremieren und in den klassischen Bastionen des Bildungsbürgertums gedeiht. Es wurde en vogue, über ganz andere Aufführungen zu berichten: Fußball, Pop und anderes, das als leichte Unterhaltung lange übergangen wurde. Übergangen und übersehen jedenfalls auf dem knarzenden Parkett des Kulturbetriebs und dessen Erben. Wegwerfprodukte des Alltags: eigentlich nicht zu beachten, eigentlich kein Zeitvertreib für den redlichen Bewerter des Kulturlebens.
Seit „Mythen des Alltags“ von Roland Barthes, seit dessen abgefahrenen, oft ziemlich vernünftigem Betrachten von Sonnenschirmen am Strand, einem Citroën und anderen Wegwerfprodukten des 20. Jahrhunderts, kann man das machen. Wer hierzulande in einem Essay über ein paar Gedanken improvisiert, noch mit Lust und Wonne tastet und fingert, was es Neues zu entdecken gibt, Neues im Alten, kommt an Barthes so wenig vorbei wie an Foucault und Jean Baudrillard. Wie das so ist – bei Comics, genauso bei absoluten Mega-Sellern der Buchfabriken – werden die Abenteuergeschichten von „Tim und Struppi“ von der Literaturkritik kaum beachtet. Kein Schund, okay, irgendwie auch nicht richtig totzukriegen… aber … Schulterzuck. Ach so, stimmt, „Der Blaue Lotos“ findet sich, zwischen Apollinaire und Anne Frank in Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts, Frédéric Beigbeders „Letzte Inventur vor dem Ausverkauf“. Aber, von Barthes bis Beigbeder: alles Franzosen.
Klare Linie, großes Erzählen
Mit dem Stil der ligne claire, der klaren Linie, sowie dem am Kino orientierten Erzählen – in Dramaturgie mittels Cliffhangern, Close-up-, Panorama-Perspektiven usw. – ist George Remi alias Hergé ab 1929 zu einem Klassiker des 20. Jahrhunderts geworden. Eine sich radikal ändernde Welt, die Neuordnung politischer Landschaften und Umwertung von Ideologien: sie spiegeln sich direkt in den bis 1976 veröffentlichten Abenteuern Tims. Über Hergés Depressionen und Macken wurde viel geschrieben, ebenso über die zunächst intolerante, auch rassistische, vielleicht homophile, dann kolonialistische Weltsicht des Heroen – oder seines Schöpfers? – mit einer gewissen Schwäche für Monarchen und Nationalisten. Inhaltlich im Minenfeld des 20. Jahrhunderts, fixiert inmitten obsessiv realistischer Sets; dann der fast nervig perfekte Moralist Tim (der auch Hergé Krämpfe und Schreibblockaden verursacht, schließlich das Gegenstück inspiriert hat in Form der fluchenden Knollennase Haddock)… oder die stets irren Professoren und die Dada-Slapstick-Lieferanten Schulze und Schultze… In 24 Alben, die weltweit Millionenauflagen erreichten, gab es unendlich viel Stoff, der zum Nachdenken angeregt hat. Steven Spielberg hat sich für „Indiana Jones“ einiges abgeschaut, Warhol war ein Fan, noch offensichtlicher Roy Lichtenstein (der den Umschlag gestaltet hat für Frederic Tutens Roman „Tim und Struppi in der Neuen Welt“, eine Lovestory mit Personal aus Thomas Manns „Zauberberg“), der Brite Michael Farr hat ausführlich über Wirkungsgeschichte und Quellen des Gesamtwerks berichtet…
Man merkt – und staunt ein wenig: Überall die Melange aus ungleichen Zwillings-Paaren: Franzosen und Engländer, Demokratien und Königshäuser, Slapstick und Spannung, der Gutmensch und die Schurken, Diktaturen und Gerechtigkeit, Comic und Politik, Weltreisende und Kleingeister, penible Sorgfalt bei Colorierung und meisterhaft im endlosen Weiß von „Tim in Tibet“, märchenhafte Action und realistische Details. Die ungleichen Paare – kreiert im Hinterhof Frankreichs, Belgien – haben Angloamerikanern eingeleuchtet, ohnehin locker im Umgang mit U- und E-Kultur … Und doch… Und doch: Was ist Hergé nun? Klassiker der Kunst? Pate der Pop Art? Oder Meister der Literatur(geheimnisse)?
Nicht mehr klar – oder nicht mehr als das?
Muss man über Hergé oder Tim und Struppi, über die Linienführung und das Arrangement der Plots, muss man dazu – wie über andere Sujets des Alltags – mehr lesen als die Comics? Über das Reifen und Erwachsenwerden in aller Öffentlichkeit? Für Tom McCarthy ist die Antwort klar. In „Tim & Struppi und das Geheimnis der Literatur“ zitiert der Brite schon früh Roland Barthes, dessen doch sehr französisches Riffen und Improvisieren um den „Nullpunkt des Sinns“. Der Nullpunkt sei eben der Punkt, an dem „auch der klassische Text nicht mehr als das, was er sagt, zu sagen hat … er aber doch ’verstehen läßt’, daß er nicht alles sagt“.
Yeah: Franzose auf Englisch, übersetzt ins Deutsche. Die Akzentuierung des „nicht mehr“ geht leicht verloren.
Verknappt, fast wie für eine Sprechblase: Trotz der klaren Linie der Figuren, simpler Oberfläche, trotz präziser Kartografierung von Locations rund um die Welt, bleibt das letzte Wort zu Intrigen und wechselnden Ideologien, zu Schuld und Verbrechen, Werten und Falschmünzern ein ambivalentes Spiel. Tom McCarthy beugt sich über das Spiel, arrangiert und rearrangiert. Als er 1969 geboren wurde, hatte Tim mehrfach die Welt umkreist und noch vor Menschen den Mond bereist (nach Jules Verne übrigens), doch Haddock war müde, Hergé auch, „Die Juwelen der Sängerin“ bewegten sich 1963 kaum von Schloss Mühlenhof, „Flug 714 nach Sydney“ hätte 1968 fast niemals den Flughafen verlassen… Als McCarthy lesen lernte, war das Werk Hergés bereits abgeschlossen. Sein Geschichtsbuch. Und was sah er: Spurensuche. Immer wieder das Lesen des bereits Gelesenen, das Aneignen und Enteignen, Piraterie. Von dort ein Katzensprung – in McCarthys Schlusssprint – zu Guy Debord und William S. Burroughs: das Verschmelzen von Original und Fälschung, „alle Literatur ist Piraterie“, Sinn wird immer wieder neu zusammengefügt – von „Schreibern und den Lesern zugleich“.
Hochseilakt eines französische Pirouetten drehenden Briten
Außer Barthes, Foucault und Derrida holt McCarthy auch Freud und andere in den Zeugenstand. Er hat Psychologen gelesen, aber auch Biografien über Tim und Hergé – der vermutlich ein Abkömmling von Leopold II. war, dem König der Belgier, einem aufmerksamen Beobachter der Landnahme entlang des Kongos (!). So hält McCarthy inne, wie die Heroen der Geschichten, wie die Leser – als junge Menschen und später auch wiederholt –, um über manches Geheimnis zu staunen, auch über Architektur und Kunst und Garderobe … und letzten Endes über das, was Tim & Struppi, so wie alle große Kunst ausmacht: Nichts ist jemals, wie es zunächst scheint.
Unterm Strich, so fragt man sich in den ersten Kapiteln McCarthys, ist vielleicht die eine Lektion wichtig: Tim wie Hergé wie die Leser erlauben sich Fehltritte, werden ehrgeiziger und komplexer, suchen nach dem Makellosen – und entdecken, dass ein Leben ohne Whisky und Pannen witzlos ist. Tom McCarthy, neulich auf der Shortlist des Booker Preises (hierzulande bei Diaphanes veröffentlicht, wie sein ebenfalls sehr lesbarer Freund Tim Etchells) ist vermutlich einer der aufregendsten Autoren der Gegenwart. Sein Umkreisen der Literatur mithilfe des fast nie schreibenden Reporters Tim ist witzig, vielschichtig, phasenweise vielleicht ein bisschen peinlich wie Pfadfinder, dann mit überraschenden Wenden – und deshalb spannend bis zum Schluss.
Ein Essay, intelligent und gewitzt, vollkommen ohne erhobenen Zeigefinger: sehr bemerkenswert.
Matthias Penzel
Tom McCarthy: Tim & Struppi und das Geheimnis der Literatur. (Tintin and the Secret of Literature, 2006). Essay. Deutsch von Andreas Leopold Hofbauer. Berlin: Blumenbar 2010. 254 Seiten. 18,90. Euro.
Jose-Louis Bocquet, Jean-Luc Fromental, Stanislas: Les Aventures d’Hergé. ISBN: 2908710458
Serge Tisseron: Tintin et les secrets de famille. ISBN: 2700721683
Michael Farr: The Complete Companion. ISBN: 0867199016
Harry Thompson: Tintin: A Biography. ISBN: 034052393X
Frederic Tuten: Tim und Struppi in der Neuen Welt, ISBN: 3250102458
Tom McCarthy: 8 1/2 Millionen (Remainder). Roman. Deutsch von Astrid Sommer. Berlin-Zürich: Diaphanes 2009. 300 Seiten. 19,90 Euro.
Tim Etchells: Endland (Endland Stories: Or Bad Lives). Stories. Deutsch von Astrid Sommer. Berlin-Zürich: Diaphanes 2008. 233 Seiten. 19,90 Euro.
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