Geschrieben am 6. Dezember 2017 von für Klassiker Special 2017, Litmag, News, Specials

Utopische und Eskapistische Literatur

Thomas Morus UTOPIA
Hannes Solbach

Was wäre, wenn … Klassiker der utopischen Literatur

Statt sich von negativen, gruseligen, düsteren und letztlich deprimierenden Zukunftsvisionen unterhalten zu lassen, könnte es ja doch auch mal besser werden. Heller, gerechter, sicherer, freier, das ist zumindest zu Weihnachten ein guter Gedanke und eine bessere Geschenkidee.

Die Zukunft hat Vergangenheit. Von Platon bis Skinner haben Menschen mit offenen Augen geträumt, Staaten gegründet, Probleme gelöst, Konflikte befriedigt – auf dem Papier. Wer sich heute mit den alten Bauplänen für eine neue Gesellschaft beschäftigt, findet überraschend unterhaltsame Utopie-Klassiker in einer Bandbreite von politischen Sozial-Utopien über Utopie-Unterhaltung und -Thrillern bis zu eher eskapistischen Robinsonaden. In jedem Fall aber attraktiven Lesestoff mit Sinn und Verstand.

prinzip hoffnungDas Prinzip Hoffnung.

Zur grundsätzlichen Beschäftigung mit dem Thema und zur Erarbeitung einer Bücherwunschliste lädt ein längeres Kapitel aus dem Ernst Bloch Großwerk „Das Prinzp Hoffnung“ ein. „Freiheit und Ordnung, Abriß der Sozialutopien“ bietet eine Übersicht der ernstzunehmenden zukunftsweisenden Bücher und ist in zwei Versionen zu haben: mit und ohne Quellentexte im Anhang. Der Philosoph der „konkreten Utopien, der Tagträume“ (Wikipedia) fängt in seinem leicht verständlichen Text bei den Griechen, bei Platons dorischem Staat an. Weiter geht es über Augustins Gottesstaat und Thomas Morus „Utopia“ zu Campanellas Sonnenstaat. Danach bringt Bloch Fichtes geschlossenen Handelsstaat ins Spiel und widmet den individuellen Anarchisten Stirner, Proudhon und Bakunin ein Kapitel. Karl Marx, so sieht es der „Neomarxist“, geistiger Begleiter der 68er Studentenbewegung und „väterlicher Freund“ Rudi Dutschkes, passt durchaus auch in die Reihe der Zukunftplaner. In der Rowohlt-Buchausgabe mit Quellentexten ist Marx mit einem langen Auszug aus dem „Elend der Philosophie“ vertreten.

Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung, Abriß der Sozial-Utopien. Aus „Das Prinzip Hoffnung“ Reclam, 193 Seiten, antiquarisch z.B. bei Booklooker.de ab 2,20 (inkl. Versand). Oder auch mit Quellentexten als Rowohlt-Ausgabe, 251 Seiten, antiquarisch z.B. bei Booklooker.de ab 2,70 (inkl. Versand)

looking backwardSchlafend in eine bessere Zukunft.

„ … am sympathischsten erscheint hier noch der Amerikaner Bellamy mit seinem berühmt gewesenen Buch LOOKING BACKWARD“ schreibt Ernst Bloch über das 1888 erschienene Buch „Ein Rückblick aus dem Jahr 2000“, von Clara Zetkin übersetzt und 1914 in Deutschland herausgekommen. Julian West, ein Bostoner Jung-Kapitalist, schläft in seinem Spezialschlafzimmer ein. Dicke Mauern und dichte Türen sollen ihn vor dem Lärm der frühkapitalistischen Industrie schützen, schützen ihn aber auch vor einem gigantischen Brand und lassen ihn dank magnetischem Schlaf bis ins Jahr 2000 schlummern. Als der junge Mann aufwacht, hat sich die Welt verändert: Der Sozialismus ist da. Allerdings eher eine Art Staats- und Einheits-Sozialismus, in der ein individuelles Leben kaum möglich – und aus Sicht des Autors auch kaum nötig ist. Dazu Ernst Bloch: „…sein Sensationsroman ist, bei aller Seichtheit und zivilisatorischer Äußerlichkeit, nicht ohne bewegliche sozialistische Phantasie.“ Die erfolgreichste Utopie des 19.Jahrhunderts und eine der meistgelesenen Utopien überhaupt gibt es in zahlreichen Ausgaben, neu und antiquarisch.

Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887. Hofenberg Sonderausgabe, 9 Euro 80
Golkonda Verlag, mit ausführlichem Vorwort und langem Ausschnitt aus Bellamys Fortsetzung „Equality“, 24 Euro 90

kunde von nirgendwoFür Homespun-Sozialisten.

William Morris´ Roman „Kunde von Nirgendwo“ ist für Helmut Swoboda „Ein Traumland für sozialistische Blumenkinder, ein Idyll technischen Rückschritts und geistigen Fortschritts“ (Zitat aus „Der Traum vom besten Staat“ dtv WR 4117 – antiquarisch erhältlich). Morris war britischer Autor, Maler, Architekt, Kunsthandwerker, Designer, Drucker, Ingenieur, einer der Gründer der Arts and Craft Bewegung und der sozialistischen Bewegung. 1890 erschien „News from Nowhere“ in England, 1892/93 in der SPD-Zeitschrift „Die neue Zeit“ als Fortsetzungsroman. Wilhelm Liebknecht hat für die knapp 300 Seiten-Buchausgabe ein Vorwort geschrieben, seine Frau hat dreiviertel des Buches übersetzt. Der Held der Geschichte diskutiert mit Freunden über Möglichkeiten der Zukunft, geht nach Haus, schläft ein und wacht in der Zukunft auf. Und in was für einer: die Fabriken abgeschafft, jeder tut, was ihm oder ihr am meisten Spaß macht. Werkstätten und Läden sind übers ganze Land verteilt, das Paradies ist ausgebrochen. Selbst große Städte werden zu ländlichen Idyllen. Geld und Eigentum gibt es nicht mehr, es herrschen Tauschwirtschaft, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung. Für Ernst Bloch ist Morris ein romantischer Antikapitalist und Kunstgewerbe-Sozialist. Und genau das macht den Reiz dieser vielgelesen und vieldiskutierten Antwort auf Bellamys Industrie- und Einheits-Sozialismus aus.

William Morris: Kunde von Nirgendwo. Verlag Edition AV 16 Euro; Golkonda Verlag 22 Euro 90; Edition Nautilius 28 Euro

insel felsenburgFlucht auf die Insel.

Zu seiner Zeit, das behauptet jedenfalls Arno Schmidt, war Johann Gottfried Schnabels „Die Insel Felsenburg“ die berühmteste, bedeutendste und meist gelesenste Robinsonade Deutschlands. 1731 bis 1743 in vier Bänden herausgebracht, erschien1828 eine gekürzte, von Ludwig Tieck eingeleitete und herausgegebene Fassung, heute Basis der aktuellen Reclam-Ausgabe. Die „Insel Felsenburg“ beginnt, wie alle Robinsonaden beginnen. Schiffbruch, Rettung auf eine Insel, Eroberung des neuen Lebensraums. Aber im Gegensatz zu anderen Inselgeschichten bleiben die Schiffbrüchigen auf der Insel, sie holen sogar aus dem fernen Europa Siedler hinzu und gründen einen Staat. Wie dieser Staat betrieben wird und sich entwickelt, bildet die Rahmenhandlung. Dazu werden in den einzelnen Kapiteln satirisch bis drastisch die Lebensgeschichten und Schicksale der einzelnen Inselbewohner erzählt. Das Ganze ist wie eine Endlos-Fernsehserie mit in sich abgeschlossenen Folgen bzw. Kapiteln aufgezogen. Man sitzt zusammen beim Feuer, hat irgendwas erledigt im Inselstaat und irgendwann fängt einer an, seine Geschichte zu erzählen. Szenenwechsel: Verfolgung, Unrecht, Schmach, Glück, Unglück, Liebeshändel, Gaunereien im alten Europa. Und am Ende des Kapitels ist man wieder in Sicherheit auf der Insel Felsenburg. Und wieder sehr gut unterhalten.

J.G.Schnabel: Die Insel Felsenburg. 607 Seiten Reclam Universal-Bibliothek 12 Euro 80

die gestrandetenSchöner stranden.

Jules Verne hat, neben wunderbaren Robinsonaden wie „Die geheimnisvolle Insel“ und „Zwei Jahre Ferien“ mit „Die Gestrandeten“ 1909 auch einen uptopischen Staatsroman vorgelegt. Die Story: Südlich von Chile strandet ein Auswanderer-Schiff auf einer Insel, die noch von keinem Staat annektiert wurde. Der Held, ein „idealistischer, humanitärer Anarchist“ (Klappentext) rettet die über tausend Schiffbrüchigen, führt sie durch den Winter und hilft ihnen, sich einzurichten. Kaw-djer, wie er von den Eingeborenen genannt wird, schreit öfter mal gegen den Sturm an, dass es keinen Gott und keinen Herrscher gäbe.
Jules Verne denkt, wie von ihm gewohnt, so ziemlich an alles: Von was leben die Leute, wie leben sie, wie und was bauen sie an. Ackerbau, Handel, Industrie, Gesellschaftsproblem, kommt alles vor. Klar auch, dass die Menschheit nicht nur aus Altruisten besteht. Einige sind eben faul und gewalttätig und der Schlaueste von allen ist, weil Individualist und Anarchist, zu keinem Führungsjob bereit. Es folgen Chaos, Meuterei, Betrug, Gewalt und am Ende des ersten Bandes ein Gouverneur namens Kaw-djer. Im zweiten Band erleben wir Aufstände, Attentate, Überfälle, Goldfunde und einen Goldrausch, den Einsatz eines chilenischen Kriegsschiffes und die Rettung der Kolonie.

Bei einem Gesamtumfang von 760 Seiten sind Längen und technische Ausschweifungen verzeihlich, schließlich sind „Die Gestrandeten“ Jules Vernes „politisches Vermächtnis“(Klappentext) und seine Gebrauchsanweisung für einen Idealstaat. Für den Leser von heute bleibt das Vergnügen, einem Großmeister der sozialen und technischen Utopien (Von der Erde zum Mond etc.) bei der Beantwortung der alles entscheidenden Frage zu folgen. Was wäre, wenn …?

Jules Verne: Die Gestrandeten“ Band 1 und 2. Diogenes, 380 und 381 Seiten, antiquarisch z.B. bei booklooker.de ab 10 Euro 65 (inkl. Versand)

 

 

Hannes Solbach, war Autor bei „Sounds“ (u.a. „Baupläne für eine neue Gesellschaft“, Oktober 1975) und „Szene Hamburg“, freier Texter, lebt in Hamburg.

 

 

Tags : , , , , , , , , , , , ,