Wellenberge, Wellentäler
Täglich. Zwei, drei Blicke. Gegen das Vergessen. Oder als Mahnung. Oder aus Liebe. Oder aus Sehnsucht. Warum eigentlich heften wir uns immer und immer wieder neu Postkarten, ermutigende Sinnsprüche, langsam vergilbende Photographien (wir zwei, wann war das noch mal, am Strand von Norderney) an die Wände, an die Pin-Boards? Jedes Jahr werden es mehr Postkarten aus immer entfernteren Winkeln der Erde und wir verlieren langsam den Überblick. Wer hat noch mal die Karte mit dem Berg im Gegenlicht geschickt? Stammt die Karte aus Bali oder nur von der Ligurischen Küste? Und das Stillleben mit Gläsern und einer halbvollen Weinflasche? Das könnte von unseren frankophilen Nachbarn stammen, aber die waren doch in diesem Jahr überhaupt nicht im Ausland? Rund ist die Welt, bunt ist die Welt. Da wirbt eine spärlich bekleidete Blondine für Ferien auf Korsika. Direkt daneben hängt eine Postkarte mit einem Motiv von irgendeinem griechischen Kloster, auf dem nur in langen schwarzen Kutten bekleidete Popen zu sehen sind. Vielleicht ist es der immer neue Versuch, einen glücklichen Moment im Ablauf unserer bisherigen Biographie in Erinnerung zu behalten. Aber was war das für ein Glück, an das man sich nur mit Hilfe einer Photographie oder eines Souvenirs erinnert? Oder wollen wir wenigstens für einen kurzen flüchtigen Blick an die Wand den unentwegt in der Uhr rieselnden Sand aufhalten? Fühlen wir uns Verstorbenen verpflichtet, die uns wenigstens als Wanddekoration nahe bleiben sollen? So viele Wände und Pin-Boards, so viele Möglichkeiten der Gestaltung.
Warum hat sich noch niemand mit der Ästhetik der Nähe in unseren Alltagsräumen beschäftigt? Aber vielleicht gibt es ja auch bereits einschlägige Untersuchungen, die mir nur zwischen den „Wellenbergen und Wellentälern alltäglicher Aufmerksamkeit und Gewöhnung“ (Walter Benjamin) entgangen sind. Wenn uns die Nähe zur Gewohnheit wird, wir immer und immer wieder auf dasselbe Postkartenmotiv, denselben Spruch, dasselbe künstlerische Motiv, dieselbe private Photographie schauen, dann verlieren wir uns in den Wellentälern der Aufmerksamkeit. Langsam vergilben dann die Szenen und Sprüche, die uns einmal glanzvoll erschienen. Wir schaffen es aber nicht, diese uns einmal wichtigen Erinnerungen und Ermahnungen von der Wand zu nehmen. Unsere Leitbilder, unsere Lebensleitmotive verwittern mit den Jahren. Sie bleiben noch lange sichtbar, aber ihnen ist unsere Aufmerksamkeit genommen. Nichts mehr geht von ihnen aus. Die Wellenberge sind längst an den Stränden des alltäglichen Immergleichen in den Sandboden versickert. An der Wand neben meinem Schreibtisch sind keine Postkarten befestigt.
Aber da hängen kleine Kunstwerke und viele Bilder von Menschen, die mir nahe sind – oder die mich in Welten geführt haben, die ich ohne die Lektüre ihrer Bücher oder die Auseinandersetzung mit ihrem Leben vielleicht nie kennengelernt hätte. Und Sätze, Erkenntnisse, Aufforderungen, Gedichte hängen dort, die mir etwas bedeuten, die mir als Maßstab für ‚Geist und Poesie‘ gelten, die mich Sehen, Denken, Träumen gelernt haben. Bei den besten, mich überzeugendsten von ihnen fällt das alles zusammen. Vor einigen Jahren habe ich mir einen Satz eingerahmt, den ich bei Georges Steiner gefunden hatte. Seine Untersuchung „Grammatik der Schöpfung“ läßt er mit einem Paukenschlag beginnen: „Wir haben keine Anfänge mehr“. In den ersten Monaten nach der Anbringung dieses Satzes an meiner Wand, schweiften meine Blicke mehrmals täglich auf diese Verlustanzeige. Immer wieder reizte mich dieser Satz zu denselben Fragen: Was bedeuten ‚Anfänge‘ für die Organisierung des eigenen Alltags wie für die Gesellschaft, in der ich lebe? Warum sind Anfänge, radikale ebenso wie ‚Wieder-Anfänge‘ so wichtig für uns, für unser Verständnis von Kunst, von Politik, von Identität und Geschichte? Dann vergilbte auch diese Mahnung, im Leben das ‚Anfangen‘ und ‚Neu-Beginnen‘ nie zu vergessen immer mehr. Alles wird zugedeckt, überschwemmt mit den Wellen der Gewohnheit und des Vergessens. Ich müßte mal wieder anfangen, meine Aufmerksamkeits-Wand erneuern…
Carl Wilhelm Macke