Superlativ
Ich lebte im goldensten Zeitalter,
in der glücklichsten Gesellschaft,
im gerechtesten System,
unter der weißesten Lehre,
mit der höchsten Moral,
in der ewigsten Freundschaft,
mit Blick auf die herrlichste Zukunft.
Den komparativ habe ich übersprungen,
ich gelangte direkt in den Superlativ.
Stets mußte das Lächeln
am glücklichsten strahlen,
der Moment war der historischste,
der Feiertag der feierlichste,
der Fortschritt der fortschrittlichste.
Ich glaube an den reinsten Glauben
ich loderte mit der loderndsten Flamme:
Wie oft stellte ich mich auf Zehenspitzen, um die höchste Latte einmal zu überspringen.
Ich weiß nur nicht, warum
meine Verse am traurigsten klangen
und immer trauriger wurden.
Aus dem Bulgarischen von Barbara Müller
Blaga Dimitrowa (geb. 1922, gest. 2003) hat, so kann man bei Kennern ihrer Biographie lesen, in jüngeren Jahren auch fürchterliche Stalin-Poeme geschrieben. Mit jedem neuen Gedichtband sei sie dann aber weiter auf Distanz zur kommunistischen Heldenlyrik gegangen. Den pathetischen Stil habe sie nie ganz überwunden, aber sie habe sich auch immer wieder selbstkritisch mit ihrem eigenen Schreiben auseinandergesetzt:
„In jenen Tagen versuchten wir, alles von unserem revolutionären Standpunkt aus genau zu definieren, um selbst an die geringfügigsten Erscheinungen der Wirklichkeit wissenschaftlich heranzugehen und uns für die Meisterung der Praxis bis an die Zähne mit Theorie zu wappnen. Warum ist gerade dieses ungeformte Alter so überaus zugänglich für Formulierungen? Woher kommt dieses Streben nach einem exakten Modell des Lebens? Hätte uns jemand nur im Scherz gesagt, daß sich das Leben nicht in eine Form pressen lasse, so hätten wir ihm die Fähigkeit zu wissenschaftlichem Denken abgesprochen. In uns selbst war alles ungeordnet, wir jagten unerfüllten Wünschen nach und konnten uns selbst nicht verstehen. Vielleicht glaubten wir gerade deshalb, daß die uns umgebende Welt strengen Gesetzen unterworfen sei, daß alles nach einer idealen mathematischen Gleichung verlaufe und daß die Harmonie von außen auch auf uns übergehen müsse. Die Wahrheit ist, daß wir uns an der Kraft der Vernunft nie so berauschten wie in jenem unvernünftigen Alter“
(Blaga Dimitrova, Experiment mit der Liebe, Berlin: Universitas-Verlag 1971)
Nach dem Ende des Kommunismus hat sich Blaga Dimitrowa in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Initiativen für ein neues Bulgarien geschlagen, die aber in dem ‚neuen alten‘ Bulgarien immer Minorität blieben. Vielleicht war es auch ihre Tragik, nie unzweideutig von ihren alten kommunistischen Idealen distanziert zu haben. Andererseits hat sie immer auch versucht, gegen die patriarchalischen Strukturen der bulgarischen Gesellschaft ihre Stimme und die der Dichterinnen zu Gehör zu bringen.
Auch das Gedicht ‚Superlativ‘ ist ja alles andere als ein Gedicht der Einwilligung in vorgeschriebene Glaubenssysteme. Übrigens gehört Blaga Dimitrowa zu den Dichterinnen, die Birgitta Assheuer in ihrer überaus lobenswerten Reihe mit Gedichten von südosteuropäischer Lyrikerinnen aufgenommen hat. Ein Weihnachtsgeschenk für alle Freunde und Freundinnen handverlesener Lyrik!
Carl Wilhelm Macke
Gedicht erschienen in Gauß/Hartinger: Das Buch der Ränder – Lyrik. Aus dem Bulgarischen von Barbara Müller. Wiwser Verlag Klagenfurt, 1995. 232 Seiten. Foto: Wikipedia, Quelle.