Geschrieben am 22. Februar 2010 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Zeitungssterben

Fehlende »Orientierung«

Eine Lappalie. Eine Lappalie? Ende des letzten Jahres wurde eine kleine, von Schweizer Jesuiten herausgegebene Zeitschrift eingestellt. Orientierung, so ihr Name, hatte zuletzt vielleicht noch eine Auflage von ungefähr 4 000 Exemplaren. Der rührend vorgestrige Untertitel deutete schon an, wer der Adressat dieses so vollkommen unspektakulären Blättchens war: „Katholische Blätter für weltanschauliche Fragen.“ Gemacht und gelesen wurde dieses seit 1937 (!) regelmäßig zweimal im Monat erschienene Blatt vornehmlich in Kreisen des katholischen Bürgertums, das seine Weltoffenheit entscheidend den Ideen des II. Vatikanischen Konzils der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verdankt. Ein Nachruf von Carl Wilhelm Macke

Es gab einmal eine Zeit, als katholische Intellektuelle auch außerhalb der Pfarreien, der Kirchenblättchen und Priesterseminare tatsächlich noch gehört und viel diskutiert wurden. An Namen wie Eugen Kogon und Walter Dirks, die legendären Gründer der Frankfurter Hefte wäre zu erinnern, die während der Adenauer-Jahre den Katholizismus und vor allem die westdeutsche Demokratie eindeutig antifaschistisch prägen wollten. Auch an die kleinen, dem linken Flügel der SPD nahestehenden werkhefte muss man hier denken, in denen Günther Wallraff und der leider fast vollkommen vergessene politisch wie literaturästhetisch radikale Schriftsteller Christian Geissler ihre ersten Texte veröffentlichten. Kommentare von Intellektuellen wie Johann Baptist Metz, der geistige Vater der „lateinamerikanischen Befreiungstheologie“, wurden viele Jahre lang selbstverständlich auch in kirchenfernen und laizistischen Öffentlichkeiten zur Kenntnis genommen. Einen Hauch jener Zeit spürt man heute vielleicht noch in einer Zeitschrift wie Publik Forum, die es aber nicht geschafft hat, in einer Öffentlichkeit jenseits der Kirchentage und kleiner christlicher Zirkel gehört zu werden.

Das gleiche Schicksal erlebte über viele Jahre hinweg auch Orientierung. In der Gott sei Dank längst entkonfessionalisierten deutschsprachigen Öffentlichkeit wurde es überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Wer aber einmal dieses kleine Blättchen von jeweils elf Seiten ohne jede Scheuklappe vor der „katholischen Weltanschauung“ in die Hand nahm, war erstaunt über die Qualität der Beiträge. Man fand dort ausführliche und im intellektuellen Gehalt ausgezeichnete literarische Besprechungen etwa von Autoren wie Jean Amery, Herta Müller, Joseph Conrad, Christoph Hein, José Saramago, Hannah Arendt, Albert Camus, Theodor W. Adorno, Salman Rushdie usw. usw. Vielleicht waren die in der Orientierung publizierten Texte nicht immer aktuell, dafür aber nahm man sich etwa für die Besprechung eines Buches noch eine Zeit (und einen Platz), von der man heute oft nur träumen kann.

In ihrem Abschied an die Leser schrieb die Redaktion jetzt, man habe bis zuletzt daran festgehalten, „daß die grundlegenden Fragen des Menschen und der Gesellschaft nicht marktförmig, sondern nur im Diskurs behandelt werden können“. Ein kleiner Kreis katholischer Intellektueller hat in den letzten Monaten noch einmal und ohne Erfolg versucht, alle finanziellen und personellen Ressourcen zusammenzukratzen, um die Zeitschrift und ihren Anspruch zu retten. Den Jesuitenorden plagen derzeit andere Sorgen als ein kleines Intellektuellenblättchen zu unterstützen, das sich weder den Marktgesetzen noch dem Niveau der Pius-Brüder anpassen wollte. Vielleicht wird niemand das Fehlen dieses kleinen Blattes in der kulturellen Debatte überhaupt registrieren. Das Verschwinden dieser für viele Jahrzehnte wacker dem Zeitgeist innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche widerstehenden publizistischen Stimme soll aber nicht ganz unbemerkt bleiben. Eine weitere „Orientierung“ weniger …

Carl Wilhelm Macke