Una signora
– Am 22. Januar ist die Journalistin und ehemalige Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Italiens im Alter von 91 Jahren gestorben. Ein Nachruf von Carl Wilhelm Macke.
Jüngst hat Peter Kammerer, seit Jahrzehnten einer der besten Kenner Italiens, Berlusconi provozierend eine „Jahrhundertfigur“ genannt. Man zuckt kurz zusammen – und muss Kammerer recht geben. Moralisch und politisch zeichnet den italienischen Ministerpräsidenten nichts aus, was ihn zu einer Figur des Jahrhunderts machen würde. Seine, von der Mehrheit der wählenden Italiener ja auch mehrfach zustimmend bestätigte Art, Politik zu einer einzigen großen Ego-Show verkommen zu lassen, hat Italien tatsächlich tief geprägt. So tief, dass selbst viele der ihn kritisch seit Jahren begleitenden Journalisten gar nicht mehr merken, wie sehr sie von diesem Politik-Stil infiziert worden sind. Da wird zum Beispiel so obsessiv, auch voyeuristisch, auf die jungen Prostituierten im Umfeld des Hofstaats von Berlusconi gestarrt, dass überhaupt keine Zeit mehr bleibt, das Leben anderer italienischer Frauen jenseits von Trash und Scoop zu würdigen. Wo fand man etwa in diesen späten Januartagen des Jahres 2011 auch nur eine Notiz über die jetzt hochbetagt in Rom verstorbene Tullia Zevi? Eine Frau, die mit ihrem Stil, ihrer Biografie, ihrem politischen und kulturellen Engagement noch ein Italien repräsentierte, das heute vollkommen vergessen zu werden droht – auch von Journalisten, die sich in ihrer Kritik am moralischen Niedergang Italiens gegenseitig zu überbieten versuchen.
Wer war Tullia Zevi?
Wer also war Tullia Zevi und warum ist mit ihr ein weiteres Stück des zivilen Italiens verschwunden? Geboren wurde Tullia Zevi 1919 in Mailand als Tochter eines antifaschistischen Anwalts. Mit den Rassengesetzen von 1938 wurde von einem Tag auf den anderen das bis dahin in den Alltag des Landes mehr oder weniger normal integrierte Leben radikal verändert. Man wurde „ein Anderer“, nur weil man der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte. Jüdische Kinder wurden aus den Schulen entfernt, jüdische Lehrer und Akademiker verloren ihre Stelle, jüdische Politiker mussten ihre öffentlichen Ämter räumen. Bis unter die Haut, so sagte Tullia Zevi einmal, sei es damals für sie spürbar gewesen, dass man als ein Anderer, ein nur und ausschließlich aus rassistischen Gründen Verfemter galt. Für sie wie für viele ihrer jüdischen Freundinnen und Freunde begann die Zeit der Angst vor weiteren Denunziationen, schließlich vor den Deportationen in die Vernichtungslager der Nazis.
Dieses Schicksal blieb Tullia Zevi erspart, aber auch sie musste das Land verlassen. Flüchtete zuerst nach Paris und studierte an der Sorbonne. Längere Exiljahre verbrachte sie aber in den Vereinigten Staaten von Amerika. In New York hatte sie die Gelegenheit, an der renommierten „Julliard School of Music“ ihr Harfenspiel zu perfektionieren. Sie kontaktierte diverse antifaschistische Zirkel, mit denen sie Hilfsaktionen für die in Italien im Untergrund agierenden Gegner Mussolinis organisierte. Im Exil begann sie auch als Journalistin zu arbeiten und schrieb Artikel für in Amerika lebende italienische Antifaschisten.
Stil und eine alte Weisheit
Unmittelbar nach Kriegsende kehrte Tullia Zevi wieder zurück in das geliebte Italien. Mit Leidenschaft widmete sie sich hier mit den Mitteln ihrer journalistischen Profession dem demokratischen Neuanfang ihres Landes. Ihr Schwerpunkt war die Berichterstattung über die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und über den Eichmann-Prozess in Jerusalem. Jahrzehntelang arbeitete sie als Italien-Korrespondentin der israelischen Tageszeitung Ma’ari, des englischen Jewish Chronicle und der Jewish Tepegraphic Agency und des amerikanischen Religious News Service. Unzählbar sind die Ämter und Engagements, die Tullia Zevi in der „Comunità Ebraica Italiana“, der jüdischen Gemeinde Italiens, übernommen hatte, deren erste Präsidentin sie im Jahre 1983 wurde. Ebenso engagiert war sie in vielen staatlichen oder halbstaatlichen Gremien, wie der interkulturellen Kommission des Erziehungsministeriums, der italienischen UNESCO-Kommission, der Nationalen Kommission für Bioethik usw. Für italienische wie für ausländische Journalisten gehörte sie immer zu den ersten Ansprechpersonen, wenn diese über italienische Alt- und Neofaschisten recherchierten.
In den Gesprächen mit ihrer Nichte, „Ti racconto la mia storia“ (Ich erzähle dir meine Geschichte), lernen wir eine Frau kennen, die noch eine bürgerliche und laizistische italienische Kultur repräsentierte, von der wir heute immer mehr nur noch in der Vergangenheitsform sprechen können. Elena Löwenthal schrieb über sie in der Turiner Tageszeitung La Stampa, Tullia Zevi personifiziere noch eine „Nobiltà e Saggezza antica“ (etwa „einen Stil und eine alte Weisheit“), wie sie nur durch eine lange erlebte Geschichte geformt werden könnten. Wen aber interessiert eine solche Frau mit einer solchen Lebensgeschichte noch, wenn alle Scheinwerfer öffentlicher Aufmerksamkeit in Italien wie in Deutschland nur auf die Dekadenz eines senil werdenden Politikmachos gerichtet sind?
Carl Wilhelm Macke
Weitere Informationen zu Tullia Zevi finden Sie hier.