Essentielles Bindemittel unserer Gesellschaft
– Schockierendes Geständnis von Christina Mohr: Sie besitzt keine einzige ABBA-Platte! Jedenfalls nicht bis vor kurzem – da sandte man ihr die neue „Essential Collection“ zu. Es gibt einiges nachzuholen.
Es ist eine allseits beliebte Smalltalk-Taktik, mit vermeintlichen Defiziten zu kokettieren, um liebenswert und sympathisch rüberzukommen: da behauptet die gestandene Architektin seufzend, „überhaupt keine Ahnung von Mathematik“ zu haben, und der Informatiker bezeichnet sich als Messie, bitte nicht zu verwechseln mit dem ähnlich buchstabierten Fußballgott. Bei solchen „Geständnissen“ verfallen alle Umstehenden in verständnisvolles Gelächter, haha, jaja, das kenn‘ ich, ist bei mir genau so, Prost!
Ganz anders sieht es dagegen aus, wenn man in die Runde wirft, dass man keine einzige ABBA-Platte besitzt. Schweigen. Echt jetzt? Okay, lenke ich ein, mein Opa hat mir als Kind die Single von „Knowing Me, Knowing You“ geschenkt, aber die ist ganz wellig, weil ich sie in der Sonne liegen gelassen habe. Aber du musst doch ein Lieblingslied von ABBA haben!? „Hung Up“ antworte ich dann und weiß, dass das nicht die passende Antwort ist.
Es ist einfach so: ABBA haben mich nie begeistert und auch spätere Retro-Bewegungen konnten mir das Schweden-Quartett nicht schmackhaft machen – mir gefiel Erasures „Abba’Esque“-EP einfach viel besser als die Originale.
Vielleicht lag meine ABBA-Apathie daran, dass Frida und Benny anno 1977 aussahen wie meine Eltern – und selbst als Kind kann man nicht ernsthaft Fan einer Band sein, die einen auch vom Flötenunterricht abholen würde. Dennoch nagt bis heute das Gefühl an mir, etwas Grundlegendes versäumt zu haben, ein ganz essentielles Bindemittel unserer Gesellschaft zu ignorieren. „ABBA – The Essential Collection“ kommt für mich also genau richtig: Zwei CDs mit insgesamt 39 Songs und einem Booklet mit Infos zu jedem Track geben mir die Chance, doch noch am weltweiten musikalischen common sense teilhaben zu dürfen.
Natürlich sind alle Hits drauf, die sogar ich kenne: „Dancing Queen“, „Fernando“, „SOS“, „Voulez-Vous“, „Waterloo“, die Musikladen-Jinglemelodie „Ring Ring“ und auch „Knowing Me, Knowing You“, das ich ja wegen unangemessener Lagerung nie richtig anhören konnte. Auch die eher traurigen und düsteren Stücke vom letzten ABBA-Album „The Visitors“ sind vertreten: „The Day Before You Came“ (von dem es übrigens eine hübsche Coverversion von Blancmange gibt, ähem)
oder „One of Us“ zeigen die sonst so fröhlichen Schwedenpärchen in ganz anderem Licht – während der Aufnahmen zu „The Visitors“ lebten Benny und Frida, Björn und Agnetha und auch meine Eltern in Scheidung und ABBA sollten sich bald auflösen. Vielleicht sollte ich mir die jüngst erschienene Deluxe-Edition von „The Visitors“ doch auch noch besorgen.
Christina Mohr
ABBA: The Essential Collection. 2 CDs. Polar/Polydor (Universal). Zur Homepage.